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Ich öffne den Mund. Nur einen Spaltbreit, so wie es alle anderen beim Sprechen tun. Dann stoße ich die Luft aus. Ein schwaches Gurgeln ertönt, aber kein klarer Laut. Ich versuche es nochmal, dieses Mal halte ich die Zunge etwas höher. Wieder dieses Gurgeln, aber schon nicht mehr so stark. Noch ein Versuch! Meine Zunge halte ich jetzt in der Mitte des Mundes.

"E"

Da war es! Leise zwar und unglaublich schwach, aber es ist da.

"E!"

Es hört sich schön an. Meine Stimme ist fremd - aber es ist meine. Sie ist kratzig und eingerostet, aber wenn ich mal einen klaren Laut herausbringe ist sie tief und schwingt leicht.

"E"

Das klingt absolut nicht wie die Stimme meiner Mama. Mamas Stimme war hell und süß wie Honig.

Jetzt mache ich die Lippen rund. Die Zunge lasse ich, wie sie ist. Wieder dieses schreckliche Gurgeln!

Gereizt schnaube ich, dann probiere ich es wieder. War meine Zunge wirklich so, wie ich sie davor hatte? Nein, sie ist zu weit oben!

"Atr"

Fast, das war fast schon ein A!

Jetzt muss ich nur noch an der Aussprache arbeiten.

"Argh!"

Oh Hilfe, das war jetzt nicht viel besser... Nochmal!

"Atr! Argh! Ara! A!"

Ha! Da war es! Das war ein sauberer Laut!

"A"

Geht ja! Warum nicht gleich so?

Die Tür klappert. Schwester Agathe! Seit dem letzten Vorfall mit Andersson schaut sie mindestens einmal pro Stunde bei mir rein. Ich glaube sie traut ihm nicht mehr.

"Hallo Muna!", begrüßt sie mich. Ihr Lachen ist angestrengt, ihre Augen müde, "Wie geht es dir?"

Die Mauer, hinter ich lebe, ist immer noch da. Sie ist so unglaublich hoch! Aber ich kann darüberblicken!

Die Anstrengung begleitet mir Schmerzen. Mein Bauch krampft sich zusammen, mein Herz schlägt viel zu schnell. Aber ich schaffe es, ich schaffe es stärker als der Dämon in meinem Inneren zu sein.

"A!"

Agathe schnappt nach Luft und blickt mich erstaunt an.

"Tut mir leid Muna, aber hast du gerade was gesagt?"

"A! A-E!"

Ein glückliches Quietschen entfährt Agathe. Sofort schlägt sie sich die Hand vor den Mund.

"Tut mir leid!", flüstert sie mit einem breiten Grinsen, "Ich hätte nie... Dass das noch irgendwann... Oh Maria, das ist unglaublich!"

Glücklich schluchzt sie auf, "Darf ich dich umarmen?"

"A"

Ich selbst nicht, ob ich damit ein "Ja" oder "Nein" meine. Ich will umarmt werden, so wie jeder normale Mensch. So, wie die anderen Kinder auf der Station von den Leuten umarmt werden, denen sie wichtig sind. So...so, wie ich von Mama umarmt wurde, bevor sie starb.

Gleichzeitig habe ich Angst. Angst, dass dann alles wieder schlimmer wird. Es war so schwer an den Punkt zu gelangen, an dem ich jetzt stehe. Was, wenn mich das wieder zurückwirft, was, wenn dann meine ganze Arbeit umsonst war?

Schwester Agathe zögert nur kurz, dann nimmt sie mich in den Arm. Ich kann die Umarmung nicht erwidern, ich schaffe es einfach nicht mich zu entspannen. Aber es fühlt sich richtig an. Agathe riecht nach einer Mischung aus Kaffee , Minze und Waschmittel.

"Ich wusste immer, dass du das schaffen kannst!", nuschelt sie in mein Haar, "Ich habe nie aufgehört an dich zu glauben! Ich wusste, dass du noch da bist!"

Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt