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"Na Muna, wie geht es dir heute?", fragt mich Schwester Agathe freundlich, wie jeden Morgen. Wartet sie tatsächlich noch auf eine Antwort? Glaubt sie nach fast zehn Jahren immer noch, dass ich irgendwann auf die Frage reagiere?
Ausdruckslos starre ich sie an. Wie soll es mir schon gehen? Gleich wie immer. Müde von den neuen Medikamenten. Und gestern Abend hatte ich Kopfschmerzen. Wahrscheinlich auch von den neuen Medikamenten. Vielleicht ändert sich aber auch nur das Wetter. Das hatte ich in letzter Zeit öfters. Immer wenn Regen kommt. Oder wenn es draußen sehr warm ist. So wie heute.


"Ich hätte es dir eigentlich schon früher sagen sollen, aber bis jetzt habe ich einfach nicht daran gedacht. Tut mir leid. Private Probleme. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Ich hatte einfach ständig anderes im Kopf. Jedenfalls bekommst du heute eine neue Mitbewohnerin: Nura. Sie ist 16. Ein bisschen jünger als du. Sie wird wegen Aggressionen behandelt."


Ernsthaft? Aggressionen und Trauma vertragen sich nicht. Das hatten wir doch schon einmal. Muss ich daran erinnern, dass das Mädchen schon nach einer Woche wieder ausgesiedelt wurde, weil sich mein Zustand noch weiter verschlechtert hat? Sie hat mein Foto aus dem Fenster geworfen, das von Mama und Papa vor einem See. Ich hab bis heute noch kein neues bekommen. Obwohl ihr es mir versprochen habt!


"Keine Angst, Muna!", sagt Agathe mit ihrem typischen Krankenpflegerinnenlächeln, so als hätte sie meine Gedanken gelesen, "Nura ist harmlos. Das Leben war nicht immer gut zu ihr und das ist ihre Art damit umzugehen. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen. Die ganze Sache war ziemlich hässlich. Alkohol war da im Spiel und Gewalt. Nura ist daran zerbrochen. Mach dir keine Sorgen, es ist ja nicht für immer."


Nichts ist für immer. Gar nichts. Und eines Tages wird jeder aus der Klinik entlassen. Irgendwann wird jeder gesund. Nur ich nicht. Ich werde für immer hier bleiben. Mein ganzes Leben lang. Bis ich sterbe.


"Versprichst du mir, ihr eine Chance zu geben? Bitte, vielleicht versteht ihr euch ja, vielleicht werdet ihr ja sogar sowas wie Freundinnen!"


Ja, klar! Vielleicht fange ich ja auch zu sprechen an. Vielleicht erwacht Mama von den Toten und erklärt mir, warum sie mein Leben zerstört hat. Und vielleicht tut sich der Boden unter uns auf und reißt die Klinik und uns alle in die Tiefe. Gleich große Wahrscheinlichkeit. Als ob jemand wie ich Freunde finden könnte...


Agathe setzt sich auf die Bettkante und seufzt. Unter ihrem Gewicht sinkt die Matratze ein Stückchen ein.


"Muna, du bist irgendwo da drinnen, das weiß ich. Das sehe ich an deinen Augen. Irgendwann werde ich herausfinden, was ich tun muss, damit du zurück kommst. Dann wirst du ein normales Leben führen. Eines, in dem du selbst entscheiden kannst, wo und wie du lebst", sie seufzt schon wieder, „Du musst mir nur ein Zeichen geben, dann kümmere ich mich darum, dass du dein Einzelzimmer bekommst. Und das kann dir keiner mehr nehmen, ich verspreche dir, dafür werde ich persönlich sorgen! Schüttle doch einfach den Kopf, dann weiß ich, dass du mich verstehst."


Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Aber mein Kopf bleibt wie er ist. Ich kann ihn keinen Millimeter bewegen, denn ich spüre, dass sie mich beobachtet. Und dieses Gefühl lässt mich erstarren. Mit etwas Anstrengung könnte ich vielleicht meine Zehen bewegen, aber der Rest meines Körpers ist wie versteinert. Wie eingefroren. Als hätte ich tonnenschwere Fesseln am ganzen Körper. Ich starre sie nur an. Agathe seufzt noch ein drittes Mal, steht auf, streicht ihren Kittel glatt und wendet sich zum Gehen.


"Um 13 Uhr bringe ich dir Nura."


Dann ist sie weg und ich bin alleine. Sofort entspannen sich meine Muskeln und ich kann mich bewegen. Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Drei Stockwerke unter mir ist der Park. Ich wünschte ich wäre jetzt auch dort unten, bei den anderen. Ein paar der jüngeren Kinder spielen Fußball. Ein Junge schießt ein Tor und jubelt.
Das Mädchen mit Magersucht aus Zimmer 273 sitzt unter einem Baum und liest. Sie hat sich mir im Klassenzimmer vorgestellt, aber ich habe ihren Namen vergessen. Die anderen mussten ihr erklären, dass es nicht an ihr liegt, dass ich nicht antworte. Wäre ich auch dort unten, würde ich mich zu ihr setzen und sie nach ihrem Buch fragen. Ich habe schon lange nichts mehr gelesen. Es ist schwer an Bücher zu kommen, wenn man nicht danach fragen kann. Mein letztes Buch habe ich vor drei Jahren gelesen. Agathe hat es in meinem Zimmer vergessen. Es hat mir nicht so gut gefallen. Ich habe es nach den ersten hundert Seiten weggelegt. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen und weigerten sich, Sinn zu ergeben. Ich brauchte ewig um nur einen Satz zu entziffern.

Wüsste ich nicht, dass alle hier krank sind, würde ich die dort unten für ganz normale Kinder halten. Ganz normale Kinder, die ihre Freizeit in einem schönen Park verbringen. Aber sind wir doch ehrlich, keiner von uns wird je ein normales Leben führen. Das Mädchen nicht und der Junge auch nicht und ich erst recht nicht. Kein einziger hier.

Manche essen nicht, manche hören Stimmen, manche versuchen sich die Pulsadern aufzuschneiden. Viele von ihnen sind wie meine Mutter, sie haben die große Traurigkeit. Depression heißt das.


Manchmal habe ich Angst, dass ich das auch habe. Aber die Ärzte sprechen immer nur von einem Trauma und eigentlich wissen sie selbst nicht so genau, was mit mir los ist. Jemand wie ich ist ihnen noch nie untergekommen. Jemand, dem eigentlich nichts fehlt, der aber trotzdem nichts kann. Sie probieren alles: Medikamente, die ganz frisch auf dem Markt sind, Therapien, mit denen sie noch kaum Erfahrungen haben.
Aber je mehr sie unternehmen, desto schlechter geht es mir. Am Anfang konnte ich mich noch durch kleine Gesten wie Nicken oder Kopfschütteln verständigen. Ich konnte durch die Station spazieren und Bilder malen. Aber über die Jahre habe ich das mehr und mehr verlernt, in ganz kleinen Schritten. Jetzt bin ich nur noch da und lebe von einem Tag zum nächsten. Und an jedem Tag, an dem sich nichts ändert, werde ich frustrierter.


Es ist ja nicht so, dass ich nichts tun möchte. Wenn es nach mir ginge, wäre ich in einer komplett anderen Stadt, bei einer Pflegefamilie. Ich würde eine Schule besuchen, meinen Führerschein machen, mich mit meinen Eltern streiten – all das tun, was andere Mädchen in meinem Alter so tun. Ich möchte mit anderen reden, ich möchte Freunde. Ich möchte nicht in einer Klinik leben. Ich möchte mein Zimmer verlassen können ohne bei jedem Blick, der mich trifft, zu Stein zu gefrieren.


Aber egal was ich will, mein Körper gehört mir nicht mehr. Ich bin in ihm gefangen. Ich kann gehen. Ich kann alleine essen. Und ich kann ohne Hilfe aufs Klo gehen, worüber ich echt froh bin. Das wars dann auch schon.
Ich kann nichts mehr. Und wenn sich nicht bald was ändert, kann ich bald noch weniger.


Schrei, den keiner hörtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt