29th - Beziehungsfähig

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ERIN

Mit jedem Schritt wurde das Gewicht auf meinen Schultern leichter, ich fühlte mich besser, ich fühlte mich befreit. Aus irgendeinem Grund schienen die Leute plötzlich Respekt vor mir zu haben. Vielleicht war das auch nur so, weil Lucia neben mir herlief und ihren "sag-was-falsche-und-du-verlierst-deine-Hand" Blick trug, aber bis jetzt hatte es noch keiner gewagt, mich auf die Sache anzusprechen. Natürlich wusste ich, dass sie über mich redeten. Jeder hätte das gemerkt - wie sie mich mit ihren missbilligenden Blicken inspizierten und mit leiser Stimme hinter meinem Rücken über mich herzogen. Das mit dem Respekt war so eine Sache. Sie würden dich nie so respektieren, dass es etwas wert wäre und erst recht nicht so, dass man stolz darauf sein könnte. Allerdings konnte man einen bestimmten Grad an Respekt erreichen, bei dem die Leute zwar nach wie vor über dich lästern, aber du nicht mehr davon erfährst, weil keiner sich traut etwas laut über dich zu sagen zu sagen, wenn du es mitbekommen könntest. So hatte man zumindest seine Ruhe und konnte ahnungslos mit seinem Leben weiter machen. Lucia wurde auf diese Art respektiert. Ich hoffte wirklich, das ich diesen Punkt ebenfalls erreicht hatte. Wie mir in diesem Moment klar wurde, war mir absolut egal was das Mädchen aus Biologie, drei Reihen vor mir, von mir dachte, oder was der Kerl, den ich einmal dumm angemacht hatte, weil er sich in der Cafeteria vor mich gedrängt hatte, seinen Freunden über mich erzählte. 

"Wenn du weiter so schaust, fängt noch was Feuer", mahnte Elvis mit amüsierter Stimme. Ich richtete meinen Blick auf ihn. Er schien stolz auf mich zu sein. Mir war egal, was die anderen dachten, weil ich meine Freunde hatte. Was interessierte mich also die Meinung von irgendwem anderen?

Ich ging einfach stur gerade aus bis ich die Doppeltüren des Haupteingangs erreicht hatte und sie schwungvoll aufstieß, Lucia und Elvis gingen neben mir her und deckten mich von beiden Seiten. Wir gingen auf den Parkplatz zurück und ich suchte mit den Augen nach Lucias Jeep. Wegen all dem Stress hatte ich total verpeilt, wo sie geparkt hatte und ich wollte eigentlich die Perücke ins Auto bringen, weil ich nicht den ganzen Tag mit dem Ding in der Tasche herum laufen wollte. Lucia zog ihre Schlüssel aus ihrem Rucksack und ging voraus, weil sie durch unser telepathische Verbindung, die man mit seiner besten Freundin nun mal hat, meine Gedanken gelesen haben musste, während Elvis seinen Arm um mich legte.

"Erin! Warte!" Wir blieben alle wie angewurzelt stehen und ich drehte mich langsam um. Hunter stand ein paar Meter von uns und starrte mich unschlüssig an. Ich öffnete meinen Mund ein Stück, weil ich irgendwann, irgendwo mal was hatte sagen wollen. Aber es kam mir vor als wäre das eine Ewigkeit her und die Worte waren schon vor langem auf meiner Zunge zu Staub zerfallen. Hunter schien es genau so zu gehen, denn er wandte den Blick ab und fuhr sich überfordert über mit der Hand über den Hinterkopf.

"Wir warten", stieß Lucia ungeduldig hervor, während sie sich neben mich stellte und die Arme vor der Brust verschränkte.

"Ich- Ich weiß ehrlich gesagt nicht-" Die Schulglocke klingelte und Hunter schloss erleichtert seine Augen. 

"Wir reden später." Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Schulgebäude zurück. Was?

"Was?", sprach Lucia laut meine Gedanken aus. Elvis legte den Kopf zur Seite und verengte seine Augen. Ich war zu überrumpelt um zu sprechen. Was?

*****

HUNTER

Ich starrte die ersten zwei Stunden die Uhr über der Tafel an, sah den Zeigern dabei zu wie sie sich rückwärts bewegten. Eine gute Sache hatten die zwei Stunden meines Lebens, die ich soeben verschwendet hatte jedoch - ich wusste endlich was ich zu Erin sagen wollte. Ich suchte den vollen Gang nach ihr ab, aber ich konnte sie nirgends sehen. Ethan schien schon genervt von mir zu sein, aber sein wir doch mal ehrlich, ich hatte ihn nie darum gebeten, mir zu folgen. Als wir die Cafeteria betraten, entdeckte ich sie am Drama-Club Tisch, sie lachte unbekümmert mit Sam und das obwohl jeder, wirklich jeder, über sie redete. Über uns. Ich war mir noch nie, mit irgendjemandem, so darüber bewusst gewesen, dass wir ein "uns" und ein "wir" hatten. Ich ging direkt auf sie zu und die Blicke der Leute fielen auf mich. Gespräche verstummten, als ich den Tisch erreicht hatte. Wann würden die Leute hier aufhören sich so viel um das Leben anderer zu kümmern, als ob sie kein Eigenes hätten. 

PLAYING PRETENDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt