16 - Halt dich an mir fest

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„Danke, dass du mitgekommen bist."

„Ich weiß doch wie schwer dir das fällt. Natürlich komme ich mit."

Wir standen beide vor diesem Gebäude, das für mich mittlerweile den Charakter eines Gruselhauses hatte. Es war dieses dunkle, verspukte Haus, das am Ende der Straße stand – zwischen all den anderen Häusern, in denen glückliche Familien lebten. Alle machten einen Bogen darum, aber keiner sprach darüber.

„Es ist seltsam. Ich habe hier mein gesamtes Leben verbracht und auf einmal kommt mir dieser Ort zu fremd vor."

„Kann ich verstehen. Selbst für mich ist es anders als früher."

Dieses Haus war mein Zuhause gewesen. Ich hatte hier mit Till die Sommer im Pool in unserem Garten verbracht. Im Winter hatte ich mit Flo vor dem Kamin gesessen und UNO gespielt. Mit meinem Vater hatte ich im Schuppen eine kleine Werkstatt eingerichtet, in der wir immer kleine Holzfiguren geschnitzt hatten. Mit meiner Mama hatte ich stets die Küche ins Chaos gestürzt, jedoch mit dem Ergebnis die besten Kekse der Nachbarschaft zu produzieren. Ich hatte eine schöne Kindheit gehabt. Doch nun sah ich auf das weißverputzt Haus und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Denn ich dachte nicht an all die schönen Momente. Ich dachte an den letzten Tag, den ich dort drin verbrachte hatte. An meinen Vater, der tot im Bett leg. An meine Mutter, die von der Decke gebaumelt hatte. Ich dachte an die Schreie, die aus meiner Kehle gekommen waren. Die Polizei hatte mich erst nach einer gefühlten Ewigkeit rausgebracht und von dem Grauen befreit. Seitdem hatte ich dieses Haus nie wieder betreten. Mein Opa hatte mir meine wichtigsten Sachen herausgeholt. Doch es fehlten mir noch einige wichtige Dinge und die wollte ich nun holen.

„Ich kann auch ohne dich gehen und du beschreibst mir einfach wo das liegt, was du noch brauchst", bot Till mir an.

„Nein, lass gut sein. Es ist zu viel und zu versteckt, um es zu beschreiben. Ich schaffe das schon."

Ich gab Till den Schlüssel damit er aufschließen konnte. Ich hätte es nicht geschafft, weil meine Hand zu sehr zitterte. Er öffnete die Tür und ich spürte nicht einmal annähernd so etwas wie ein heimisches Gefühl. Es war kein nach Hause kommen, sondern die Rückkehr an einen Ort, an dem Schreckliches geschehen war.

Ich erschrak, als ich den ersten Schritt in den Flur machte. Alles sah so aus, wie wir es verlassen hatten. Mein Leben hatte sich um 180 Grad gedreht, doch hier hatte sich kein einziges Detail geändert. Die Schuhe meiner Eltern standen noch im Regal und ihre Mäntel hingen an der Garderobe. Man könnte denken, dass sie hier noch immer wohnten.

Ich suchte Tills Nähe.

„Deine Hand ist ja ganz kalt", bemerkte er, als ich seine ergriff.

„Ich fühl mich gerade auch nicht so gut."

„Wir können auch gehen und ein anderes Mal wiederkommen."

Ich schüttelte den Kopf und versuchte nicht auf die Familienfotos an der Wand zu sehen.

„Nein, wir ziehen das jetzt durch."

Zielsicher stieg ich die Stufen zu meinem Zimmer herauf. Ich ließ das Schlafzimmer, in dem das Grauen stattgefunden hatte, unbeachtet.

„Es hat sich nichts verändert", stellte nun auch Till fest und sah sich fasziniert um.

Es hätte uns klar sein sollen, dass alles so war, wie wir es zurückgelassen hatten. Wer sollte hier auch etwas umräumen? Das Haus war unbewohnt. Doch irgendwie überraschte es mich trotzdem.

Ich riss die Schranktüren in meinem Zimmer auf und stopfte alles in meiner Sporttasche, was ich noch finden konnte. Ich griff nach Bikinis und Fotoalben. Nach Schulunterlagen und Zeugnissen. Nach meiner Kosmetiktasche und meiner Ohrringkollektion. Nach externen Festplatten und SD-Karten. Ich wurde immer schneller und hektischer. Ich stopfte so schnell ich konnte meine Sachen in die Tasche.

GingerWhere stories live. Discover now