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Wie lange ich doch auf den folgenden Moment gewartet hatte! Es war ein Donnerstag, mitten im November. Auf den Dächern und an den Straßenrändern lag Schnee und der See in der Nähe des Dorfes war zugefroren, doch hier drin, in meinem geliebten Ballettstudio, war es gemächlich warm.
„Das reicht für heute, meine Lieben. Ihr könnt einpacken."
Die fünfzehn Tänzerinnen, zu denen ich mich mitzählen durfte, begannen, ihre Taschen einzusammeln und ihre Spitzenschuhe auszuziehen.
„Ach, und bevor ich es vergesse", ertönte Professor Browns laute, klare Stimme, die alle Gespräche übertönte. „Susan, bitte bringen Sie mir Morgen ihre Bescheinigung mit. Ich habe Sie schon angemeldet."
Ein Seufzen war neben mir zu hören und das blonde, attraktive Mädchen, zu dem es gehörte, erwiderte: „Ja, Professor Brown."
Nachdem ich meine Schuhe eingepackt und mich in den Umkleidekabinen umgezogen hatte, lief ich zurück in den Tanzraum: Ich hatte meine Stulpen dort vergessen und wollte mich, ohne dessen wahrhaftig bewusst zu sein, ungestört von André verabschieden. Ich hatte den ganzen Tag den Eindruck gehabt, er beobachte mich aus den Augenwinkeln und war, im Gegensatz zu meiner früheren Einstellung, sehr geschmeichelt.
Es überraschte mich also nicht, als ich André neben dem Flügel mit dem Rücken zu mir stehen und seine Noten einpacken sah.
Ich trat ein, hob meine zurückgelassenen Stulpen auf und mein Herz hoffte inständig, er würde sich umdrehen. Zugleich bewunderte ich den Anblick seines makellosen Körpers und sehnte mich danach, seine glatte Haut zu berühren.
Bitte dreh dich nicht um, bitte dreh dich nicht um! - flogen die Worte durch meine Gedanken.
Er drehte sich um. Ich erstarrte.
„Oh, du bist noch da! Ich - Hast du etwas vergessen?", durchbrach seine raue Stimme die Stille. Unfähig etwas zu erwidern, hob ich die Hand, mit der ich die Stulpen festhielt.
„Ach so. Ja ..."
Er schien sich unwohl zu fühlen, nur wieso? Da erst bemerkte ich, dass ich ihn unentwegt anstarrte, als wäre er ein ausgesprochen interessantes Gemälde. Ich wandte schnell den Blick ab.
„Du ... äh ... ich - ich geh dann mal wieder ..." Verdammt! Konnte man überhaupt etwas Dümmeres sagen? Ich versuchte mir einzureden, dass ich sowieso nicht bei ihm landen würde, da die meisten der Mädchen ein Auge für ihn hergegeben hätten und ich meine Karriere in Sicht haben sollte und nicht eine solche ... Kleinigkeit, wie Liebe oder Besessenheit.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und kehrte langsam Richtung Tür zurück.
„Nein, warte!", stieß er aus, als ich die Tür erreicht und sie geöffnet hatte. Ich drehte den Kopf nach hinten und begegnete dem leuchtenden, jedoch ein wenig unsicheren Blick Andrés.
„Was ist?", kam es geflüstert aus meinem Mund.
„H-hättest du morgen Abend Zeit? Würdest du mich auf eine Feier begleiten?"
Seine Unverfrorenheit traf mich vollkommen unvorbereitet.
„Ich - was?" Meine Stimme klang laut und erschrocken.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst", warf er sofort ein. Ich wusste nicht, was ich auf eine solche Frage antworten sollte.
„J-ja, ich ... ähm ... ich weiß nicht. Muss mal schauen. Kann ich es dir morgen sagen?" Er nickte erleichtert, keine Absage bekommen zu haben, sah jedoch ein wenig betrübt drein. Zweifellos hätte jedes andere Mädchen dieser Akademie unverzüglich eingewilligt.
Wir sahen uns einen langen Moment schweigend an. Schließlich ergriff ich das Wort und senkte den Blick.
„Ich geh dann ..." Ich wartete keine Antwort ab und ging eiligen Schrittes davon.

Ich stand wieder an der Tür, mein Atem ging schnell und flach, als hätte ich André soeben am Klavier stehen und mir zuzwinkern sehen. Wie konnte ich nur immer noch anfällig für seinen Charme sein? Jetzt, wo er doch tot war? Jetzt, wo er begraben unter der Erde lag, völlig gleichgültig mir gegenüber? Wieso überfiel mich der Schock seines Abgangs erst jetzt? Wie konnte es sein, dass ich erst jetzt, seit den zwei Wochen, in denen ich wusste, dass er diese Welt für immer verlassen hatte, den Verlust spürte, den dies in mir weckte?
Mein Herz wurde schwer wie Blei und mein Mund trocken. Es schien, als sei mein ganzes Leben wieder auf den Punkt zusammengeschrumpft, in dem ich mit André, glücklich, zusammen war. Dem Punkt, in dem ich mich in ihn verliebte und die anfängliche Besessenheit von mir abrieselte.
Rechtzeitig hielt ich mich an der Türklinke fest und meine Augen schlossen sich automatisch. Bilder von kalten Winternächten, warmen Sommertagen, langen Spaziergängen in der Frühlingssonne oder den angestauten, bunten Herbstblättern schwirrten in meinem Geist herum. Gesichter erschienen vor meinem inneren Auge. Mein Spiegelbild, die glühenden Augen Andrés, Mums und Dads Freudentränen, als ich Ballkönigin der Abschlussklasse wurde ... Mein Herz pochte immer schneller und dröhnte in meinen Ohren. Ich blinzelte kurz, erhaschte einen verschwommenen Blick auf meinen geliebten Tanzraum und alles wurde schwarz. Endlos schwarz -

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