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Ich klopfte. Man hatte mir gesagt, dass Mrs. Brown zwar streng war, jedoch die besten Tänzerinnen ausbildete. Deshalb hatte ich mich für ein Vortanzen angemeldet. Ich wusste, dass es schwer sein würde, in die Tanzakademie einzutreten, doch meine Ziele waren seit jeher hoch gesetzt und mich würde niemand, nein, nicht einmal Mrs. Brown von meinem Erfolg abbringen. Ich war überzeugt, die Beste sein zu können, wenn ich mich nur ausreichend anstrengte.
„Treten Sie ein", ertönte es hinter der Holztür. Ich öffnete sie und trat ein. Der Raum war groß und sonnenbeschienen. Das Parkett glänzte matt und der Flügel in der hintersten Ecke glitzerte im Licht der Sonne, das durch die Fenster strahlte. Auf dem Hocker, neben der Tastatur, saß ein auf den ersten Blick hübscher, großer Junge mit dichtem, rabenschwarzem Haar, das ihm bis zu den Schultern hing. Seine Augen funkelten verführerisch und sein Lächeln ließ mich erröten. Wie konnte er es wagen, mich so direkt anzusehen? Wer war er denn, um ein hochrangiges, junges Mädchen wie mich so anzublicken? Doch mein Herz machte einen Sprung, als seine weißen Zähne zum Vorschein kamen und sein schlichtes Lächeln zu einem Grinsen wurde. Was erlaubte er sich!
Mrs. Brown, eine große, zierlich wirkende Frau mit faltiger Haut, hohen Wangenknochen und strengem Blick, winkte mich herbei.
„Sie sind Miss Withey?"
Ich nickte.
„Schön. Bitte beginnen wir sofort, ich habe nicht viel Zeit. Wie alt sind Sie?"
„Sechzehn, Madam."
„Bitte nennen Sie mich Professor."
Ich nickte abermals und senkte schnell den Blick, als mich ihre grauen Augen durchdrangen. Der Anblick meines geliebten hellblauen Tricots mit dem langen, weißen Tüllrock und meinen weißen Schläppchen gab mir Mut.
„Ich bin sechzehn, Professor Brown."
„Sehr wohl. Beginnen Sie jetzt bitte mit dem Vortanz. Welches Stück?"
Meine Antwort schoss aus meinem Mund, wie aus der Pistole. Ich hatte meine Rede in- und auswendig gelernt.
„Die Mondscheinsonate von Beethoven, 1. Satz Adagio sostenuto, Professor Brown."
Sie nickte und gab mir ein Zeichen, mich in Position zu begeben. Ich drehte mich nicht um, als hinter mir Papier raschelte und der süße Klavierspieler die Noten suchte. Endlich, nach wenigen Sekunden, in denen ich mich krampfhaft abmühte, gelassen zu wirken und mich auf den Tanz vorzubereiten, ertönte der Vortakt und ich atmete tief ein.

Ich öffnete die Augen und befand mich genau dort, wo André, der wunderbare Klavierspieler, das erste Stück für mich gespielt hatte. Ich konnte vor meinem inneren Auge genau seine langen Finger über die Tastatur eilen sehen, als würden sie fliegen und jeden wunderbaren Ton von sich geben, als wären es Wünsche, Träume, die sie äußerten.
Ich strich mit der Handfläche über den Deckel der Tastatur und erinnerte mich an die wunderbaren Stücke, denen ich jahrelang beim Tanzen gelauscht hatte. Wie von selbst, schwang ich mich langsam zur Musik, die in meinem Kopf spielte, hin und her und versuchte, mich an ein paar wenige Tanzschritte aus der Zeit zu erinnern. Ja, ich war als Tänzerin in ein Ballett aufgenommen worden und war in Paris, London, Berlin, sogar New York aufgetreten, Solist inmitten der tänzelnden Sterne, allein auf der Bühne, den gefüllten Zuschauerraum zu meinen Füßen, die Köpfe erstaunt über mein Talent zu mir erhoben, die Augen weit aufgerissen.
Das Bild in meinem Gedächtnis erlosch wieder. Wie konnte es sein, dass etwas in meinem gefüllten und zugegeben wundervollen Leben fehlte? Wie konnte es sein, dass mein Herz nach all den Jahren immer noch für eine Person schlug, die mich weggeworfen hatte, wie ein altes Kaugummi? Wie hatte ich das zulassen können? Ich, diejenige, die alle jungen Mädchen beneideten; die glänzende, lächelnde, untergehende Sonne am Horizont; die Frau, die ich seit meiner Jugend hatte sein wollen? Wieder musste ich an all die Momente denken, die glücklichen Momente, die ich mit André verbracht hatte. Unsere erste Verabredung ...

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Ich widme dieses Kapitel @Horizonta für ihre wunderschönen Kommentare zu meinem ersten "richtigen" Buch hier auf Wattpad "Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann.". Danke nochmal und vielleicht findest du hier gelegentlich auch etwas zu sagen ;)

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