1.

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Ich stieß die Tür auf. Strahlend weißes Sonnenlicht flutete durch die großen, weiten Fenster und erhellte den Raum. Es wirkte wie ein Atemzug, der den leblosen Körper eines Freundes wiederbelebt, wie die Lösung eines Problems, die einem im unwahrscheinlichsten Moment erscheint, wie die Hoffnung auf einen Neubeginn ... Doch das hier war kein Neubeginn und auch kein Traum. Es war die riesige und schwerwiegende Bedeutung eines schlichten Wortes: Realität.
Ist es richtig, dass Menschen in anderen Ländern verhungern, während wir unser Essen wegwerfen? Ist es richtig, dass es Arme und Reiche gibt? Ist es richtig, dass manche Menschen ein kürzeres Leben haben als andere? Ist das Leben denn überhaupt fair?
Ich sage nein. Nein, es ist nicht richtig, das Menschen verhungern. Nein, es ist nicht richtig, dass einige reich und andere arm sind. Nein, es ist nicht richtig, dass manche Menschen früher sterben. Nein, das Leben ist nicht fair.
Langsam trat ich auf den verstaubten Parkettboden und sah mich um. Die Bilder an den Wänden waren von einer dicken Staubschicht besetzt und die Farbe des früher noch auf Hochglanz polierten Flügels in der hinteren Ecke blätterte ab. Mein Herz wurde schwer. Wie lange war es her, seit ich zum letzten Mal den Fuß über diese Türschwelle gesetzt hatte? Zehn Jahre? Zwanzig Jahre? Vielleicht sogar fünfzig Jahre?
Ich trat ein, den Blick auf die knarrenden Planken gerichtet. Wieso war ich überhaupt hier her zurückgekehrt? Wieso musste ich mir diese Erinnerungen antun? Während zugleich meine Vernunft mich hatte davon abhalten wollen, erneut meine Jugend zu durchleben, hatte mein Herz es nicht gestattet, einfach an diesem Studio vorbeizulaufen. Oder zumindest an dem heruntergekommenen, einstöckigen Haus, das einst ein Ballettstudio gewesen war.
Ich lief ein paar Schritte in Richtung der Spiegel, die an der Wand, den Fenstern gegenüber, hingen, und strich mit meinen rauen Fingerspitzen über die staubige Ballettstange. Als ich das erste Mal hier eingetreten war, so überlegte ich, musste ich ungefähr fünfzehn gewesen sein, das Herz so rein wie nur möglich und geladen mit schmeichelhaften Träumen, jeder größer und unerfüllbarer als der andere. Damals hatte ich von Berühmtheit, Glanz und Ruhm geträumt, nicht jedoch von Kleinigkeiten wie Freundschaft oder Liebe. Nein, ich hatte ganz klare Vorstellungen meiner Zukunft gehabt und war - so dachte ich zu der Zeit - nicht von meinem Weg abzubringen. Allerdings hatte ich mich geirrt und sosehr ich mich teilweise deswegen aufregte, musste ich mir selbst eingestehen, dass das wichtigste im Leben selten aus Geld und Ruhm besteht. Ich gehe sogar darüber hinaus und behaupte, dass die - wie ich sie nannte - Kleinigkeiten meistens den Inhalt eines Lebens beanspruchen.

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