Kapitel 10: Schatten über dem Selbst

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Die drei Jungs starren fassungslos auf die Zettel. „Elisabeth hat ihre Eltern getötet und sich dann ebenfalls das Leben genommen", stammelt Alex leise. „Sie wollte einfach nur für immer mit ihnen zusammen sein", ergänzt er. „Aber was ist mit den Schatten und dem Teddy?", fragt Jordan. „Ich glaube langsam, dass Elisabeth krank war", meint Casey. „Du könntest recht haben. Das Gerede von Ärzten, Schattenfreunde die während ihrer extremen Isolation aufgetaucht sind. Ich glaube auch, dass Elisabeth geisteskrank war", erwidert Alex. „Aber wie erklärt ich euch, was uns hier widerfahren ist? Der Geist von Elisabeth, die Puppen, der Teddy, die Türen?", wundert sich Jordan. „Wir haben immer mehr daran geglaubt, dass es hier einen Fluch gibt, sodass wir im Endeffekt unseren eigenen Fluch erschaffen haben. Das menschliche Gehirn ist zu Außergewöhnlichem in Stande", erklärt Casey. „Wir haben einen Schatten über uns Selbst gelegt und unsere Ängste die von uns wahrgenommene Realität beeinflussen lassen", stammelt Alex. Die Freunde schauen sich ganz verdutzt an. „Wir sollten jetzt wirklich gehen", schlägt Jordan vor. Sie lassen die losen Blätter zurück zu Boden fallen und gehen in Richtung Tür des Zimmers, welche immer noch von dem Tisch blockiert war. Gemeinsam schieben sie den Tisch beiseite und öffnen langsam die Tür. Stille. Nichts als Stille und wieder das leise Tropfen von Wasser.

Sie gehen den dunklen, feuchten Kellergang entlang zurück bis zur Treppe, die nach oben führt. Die Treppe empor steigend, wird die Luft wärmer. Oben angekommen, erhellen die Strahlen der aufgehenden Sonne, die bislang düstere und finstere Eingangshalle des Anwesens. Es ist nach wie vor still, bis auf das Knarren des Bodens. Langsam bewegen sie sich auf die große Eingangstür zu, um diesmal in Ruhe zu versuchen, sie zu öffnen. Alex greift nach dem Türgriff, rüttelt und zieht, bis sie sich schließlich öffnet. Das grelle Sonnenlicht blendet in ihren Augen und sie spüren die kühle, frische Luft auf ihrer Haut. Erleichtert treten sie durch die Tür, hinaus in die Freiheit. Sie halten kurz inne, als Casey sich zu Wort meldet. „Sollen wir den Leuten im Dorf davon erzählen?" „Lieber nicht. Sie würden uns doch sowieso nicht glauben. Dafür leben sie schon zu lange mit ihren Ängsten", meint Alex. Stillschweigend gehen die Freunde zurück zu ihrer Unterkunft. Sie sind maßlos erschöpft und freuen sich darauf, bald wieder zu Hause zu sein. Aber auch Erleichterung macht sich in ihren Körpern breit. Erleichterung darüber, dass dieser Spuk, endlich vorüber war. Im Gasthaus angekommen holen sie ihre Koffer und legen den Schlüssel, samt Bezahlung an der Rezeption ab. Sie packen ihre Sachen ins Auto, steigen ein und fahren los, weg von diesem unheimlichen Ort.

Mit der Gewissheit, dass sich alles nur in ihren Köpfen abgespielt hat, verlassen sie Dunraven. Alex, wieder mit fokussiertem Blick auf die Straße, Casey auf der Rückbank in eines seiner Bücher vertieft und Jordan, mit seinem gebrochenen Arm, aus dem Beifahrerfenster blickend. Sie passieren das Ortschild und sind erleichtert, dass dieser Ort nun ein für alle Mal hinter ihnen liegt. In dem dichten Wald, der sich links und rechts neben der Straße befindet, sieht Jordan einen Hirsch. Womöglich derselbe Hirsch, dem er auf der Herfahrt begegnet ist. Was Jordan aber nicht sieht, ist der alte, weiße Teddybär mit pechschwarzen Augen, der auf dem Rücken des Hirsches thront.

Schatten über DunravenWhere stories live. Discover now