Kapitel 6: Gesichter der Dunkelheit

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Sie rannten voller Furcht, ohne zurückzublicken. Sie rannten immer weiter, tiefer in die Dunkelheit hinein. Sie wussten nicht wohin, Hauptsache weg von der Eingangshalle und der verschlossenen Tür. Irgendwohin, wo sie vielleicht einen anderen Ausgang oder wenigstens einen Moment der Ruhe finden konnten. Ihre Taschenlampen leuchteten gerade weit genug, um nicht gegen eine Wand zu rennen. „Los! Weiter!", keucht Alex vorauslaufend. Jordan rennt hinter Alex her, da er ohne Taschenlampe selbst den Weg nicht mehr ausleuchten konnte. Mit seiner linken Hand hält er seinen rechten, gebrochenen Unterarm fest. „Verdammt!", krächzt er erschöpft. Casey ist ihnen dicht auf den Fersen. „Wir müssen kurz haltmachen Jungs. Ich kann nicht mehr", schnauft er angestrengt. „Da vorne! Rein da!", Alex schwenkt mit seiner Taschenlampe auf eine Tür auf der rechten Seite des Ganges. Er erreicht als erster die Tür und reißt sie, ohne darüber nachzudenken, was sich dahinter befinden könnte, auf. „Macht schnell!" Jordan und Casey rennen in den, noch unbekannten Raum. Alex folgt ihnen und schließt die alte Holztür. „Was ... Was ist das für ein Raum?", fragt Jordan schnaufend. Alex, der auch erst einmal zu Luft kommen muss, leuchtet den Raum ab. „Sieht wie ...", er atmet schnell ein und aus. „Sieht wie eine Vorratskammer aus. Hier sind überall Regale mit Gläsern." Der Schein seiner Taschenlampe richtet sich auf die Gegenstände in den Regalen. Dosen, Einmachgläser, Weine und vieles mehr. Alles definitiv nicht mehr genießbar. „Ich glaube, hier können wir kurz verschnaufen", meint Casey. Die Jungs versuchen sich, so gut wie es geht, zu beruhigen. Sie brauchen einen kurzen Moment, um sich zu sammeln. „Was jetzt?", erkundigt sich Jordan. „Seht mal! Da ist ein Fenster", bemerkt Alex. Draußen wütet noch immer das Unwetter, das mittlerweile seinen Höhepunkt erreicht hat. Der Wind peitscht durch die Äste, Donner ertönt und Blitze erhellen den Raum sporadisch. „Vielleicht können wir es öffnen und herausklettern!", schlägt Casey vor. Alex tritt näher an das alte, staubige Fenster heran und rüttelt. Mit genügend Kraft lässt es sich öffnen. „Ha! Es ist offen", sagt er voller Hoffnung. Er klettert vorsichtig den kleinen Tisch hinauf, der sich unter dem Fenster befindet. Der Regen peitscht in sein Gesicht und der stürmische Wind durchflutet den Raum. Vorsichtig streckt er seinen Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befindet. „Scheiße!", ertönt es verärgert. „Auf dieser Seite des Anwesens befindet sich nur ein Hang. Wahrscheinlich 15 bis 20 Meter tief", beschreibt Alex den anderen. „Hier kommen wir nicht raus" Enttäuschung und Verzweiflung macht sich in der Gruppe breit. „So ein verdammter Mist! Was zur Hölle passiert hier eigentlich?", schnauzt Jordan. „Ich habe keine Ahnung", antwortet Alex. „Aber vielleicht finden wir doch noch Hinweise in dem ...", er pausiert. „Was ist los?" „Das Tagebuch! Es ist weg!", äußert Alex. „Wie? Weg?", fragt ihn Casey. „Es muss aus meiner Jackentasche gefallen sein, als wir in der Eingangshalle zur Tür gerannt sind. Ich bin über irgendwelche Ranken oder so gestolpert und kurz gestürzt", erklärt Alex. „So ein Mist!", beschwert sich Jordan. Es herrscht kurzzeitig Stille, bis sich Alex erneut zu Wort meldet. „Ich muss zurück und es holen." „Bist du wahnsinnig?", stoßt Casey mit entsetztem Blick aus. „Was auch immer hier vor sich geht, die Antworten befinden sich bestimmt in diesem Tagebuch. Ich weiß es einfach!" „Jetzt bist du vollkommen übergeschnappt! Wenn dann gehen wir zusammen!", zischt Jordan. „Ich beeile mich und komme schnell wieder zurück. Ihr wartet hier. Es ist besser für dich, wenn du dich ausruhst Jordan und Casey sollte bei dir bleiben. Schließlich hat er auch unseren Rucksack." Stille erfüllt den, mit Staub bedeckten Gläsern gefüllten Raum. „Bitte pass gut auf Alex. Alles, was hier passiert ist nicht mehr normal", bittet ihn Jordan. „Keine Sorge, Jungs, ich mache das schon." Er rappelt sich auf und geht langsam zur Tür des Vorratsraums. Er atmet tief durch und öffnet langsam die knorrige Tür. Alex dreht sich noch einmal zu seinen Freunden um, nickt ihnen zu, tritt vor den Raum, schließt die Tür und verschwindet in der, scheinbar unendlichen, Dunkelheit des Ganges.

Vorsichtig macht er sich auf den Weg zurück zu der Eingangshalle. Seine Taschenlampe zittert erneut in seiner rechten Hand, als er Schritt für Schritt den langen Gang entlanggeht. Immer wieder blickt er über seine Schulter, um sicherzustellen, dass sich nichts hinter ihm befindet. In seinem Kopf ergreift Paranoia die Überhand. Seine eigenen Schritte, das Einzige, was er an Geräuschen wahrnimmt. Das draußen tosende Gewitter versucht er gekonnt auszublenden. Du schaffst das, du schaffst das, rotiert immer wieder in seinem Kopf. Die Umgebung wirkt noch viel düsterer und unheimlicher, jetzt, wo er alleine unterwegs ist. Was zur Hölle habe ich mir dabei gedacht? Wieso gehe ich dieses scheiß Tagebuch holen? Zweifel überkommen ihn und er überlegt wieder umzudrehen und zu seinen Freunden zurückzukehren. Nein! Ich brauche Antworten! Mit gezielten, dennoch ängstlichen Schritten geht er weiter in Richtung Eingangshalle. Der Weg fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Sind wir wirklich so weit gerannt? Nun steht er da, vor dem Torbogen, dessen Durchgang zurück in die Eingangshalle führt. Er blickt in endloses Nichts. Wie angewurzelt steht er da. Er versucht vom Torbogen aus die Halle abzuleuchten, um das Tagebuch ausfindig zu machen. Er kneift die Augen zusammen und blickt angestrengt in die Dunkelheit. Das Licht seiner Taschenlampe ist nicht mehr als ein kleiner Lichtkegel in der weiten Finsternis. Dort liegt es, ein paar Meter vor der Eingangstür, genau dort, wo er gestürzt war. Ein eisiger Luftzug zischt an seinem Kopf vorbei und er zuckt zusammen. Er fühlt sich beobachtet. Er weiß nicht, ob es die Puppen oder der Teddybär waren, die ihm dieses Gefühl geben. Gänsehaut breitet sich auf seinem gesamten Körper aus, als er plötzlich leise Schritte hinter sich im langen Gang wahrnimmt. Die Schritte sind langsam. Sehr langsam. Wie die unsicheren, taumeligen Schritte eines Kindes. patt ... patt... patt... hallt es hinter ihm. Zögerlich dreht er sich um. „J-Jungs? S-Seid ihr das? Ich hab doch gesagt, ihr sollt in der Vorratskammer auf mich warten." patt ... patt... patt... Die Schritte werden lauter, kommen immer näher. „D-Das ist nicht witzig, Jungs", stammelt er. Ein leises, schauriges Flüstern streichelt sanft sein Trommelfell. Schatten ... Fluch ... Tod ... Verdammnis ... Alex Knie fangen an zu schlottern und seine Hände zittern so stark, dass er die Taschenlampe mit beiden Händen festhalten muss. Ängstlich starrt er in die Dunkelheit, um erkennen zu können, wer oder was auf ihn zukommt. Die Schritte werden schneller und immer lauter. patt, Patt, PATT, PATT ... Alex, mit geschlossenen Augen und nicht bereit dem gegenüberzutreten, was ihn erwartet, zittert am ganzen Körper. PATT, PATT, PATT, PATT ... plötzlich Stille. Langsam öffnet er seine Augen. Nichts. Stille. Dunkelheit. Ich glaube, ich drehe langsam durch. Zögerlich dreht er sich wieder um, um in die Halle zu blicken und das Tagebuch zu holen. Mit vorsichtigen Schritten nähert er sich dem Buch, das er konzentriert anstarrt, weil er Angst davor hat, irgendetwas anderes zu sehen. Am Buch angekommen bückt er sich, um es aufzuheben. Langsam streckt er seine zitternde Hand aus und greift das alte, weiche Buch. Das Tagebuch fest in seiner linken Hand steht er wieder auf und starrt es an. Er blickt auf und lässt vor Furcht seine Taschenlampe fallen. Vor ihm steht ein Mädchen in einem weißen, löchrigen und schmutzigen Sommerkleid. Sie hat blondes Haar, ein unnatürlich breites Grinsen, schneeweiße, verweste Haut und leblose, schwarze Augen, die ihm tief in seine Seele starren.

Voller Panik dreht er sich um und fängt an zu rennen. Er rennt zurück in die Dunkelheit, aus der er gekommen war. Er hat unbeschreibliche Angst, denn das, was er da sah, konnte er sich nicht erklären. Alex rennt und rennt, ohne sehen zu können, was vor ihm war. SCHATTEN! FLUCH! TOD! VERDAMMNIS! hallt es durch den ganzen Gang, den er zurückrennt, in der Hoffnung seine Freunde finden zu können. Er rennt und rennt und rennt, immer weiter immer schneller. SCHATTEN! FLUCH! TOD! VERDAMMNIS! Alex schreit, weint, voller Furcht und Panik. Er hat das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen. Immerhin sieht er ohne Taschenlampe nichts. SCHATTEN! FLUCH! TOD! VERDAMMNIS! SCHATTEN! FLUCH! TOD! VERDAMMNIS! Das Tagebuch immer noch fest in seiner Hand rennt er schreiend durch den scheinbar endlosen Gang. Doch plötzlich geht dort, auf der rechten Seite eine Tür auf und das Licht einer Taschenlampe scheint ihm entgegen. Es ist Casey, der ihm die Tür zur Vorratskammer geöffnet hat. Ohne nachzudenken, rennt Alex durch die Tür, welche Casey gleich wieder hinter sich zuschlägt. „Schatten! Fluch! Tod! Verdammnis!", stammelt Alex. „Was ist denn los?", fragt Jordan aufgebracht. „Schatten! Fluch! Tod! Verdammnis!", stammelt er kauernd in einer Ecke der Kammer. Casey geht langsam auf seinen, in der Ecke wimmernden Freund zu und berührt ihn an der Schulter. „SCHATTEN! FLUCH! TOD! VERDAMMNIS!", dröhnt es lautstark aus der Kehle von Alex.

Schatten über DunravenWhere stories live. Discover now