Kapitel 4: Geflüster der Dunkelheit

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„Das... Das ist doch nicht möglich!", stammelt Alex. „Ich habe den Bären vorhin hier herunterfallen sehen und ihn zur Seite geschoben, als ich das Buch aufgehoben habe!" Verängstigt schauen sich die drei Jungs an. „Vielleicht hast du ihn aber auch wieder hochgelegt? Ich glaube, unsere Fantasie spielt uns nur einen Streich", meint Jordan. „Schon möglich, aber Wohl fühle ich mich bei der ganzen Sache nicht", erwidert Alex. Es herrscht Stille, bis ein weiterer Donnerschlag die Trommelfelle der Freunde erschüttert. Der laute Knall hallt durch das ganze, alte Gebäude. „Lasst uns weiter in dem Tagebuch lesen", schlägt Casey vor. „Irgendetwas Gutes muss doch da drin zu finden sein." „Doch nicht mehr so misstrauisch, was?", scherzt Alex vorsichtig. „Halt die Klappe und lies! Blättere mal ein bisschen weiter", erwidert Casey. Alex schlägt erneut das Tagebuch von Elisabeth auf und blättert ein wenig weiter.

4. Juli 1917

Ich habe heute das neue Puppenhaus bekommen, das Papa für mich gebaut hat! Es ist wunderschön und viel größer als mein altes! Aber irgendwie gefällt mir das alte doch besser. Das neue Haus fühlt sich irgendwie kalt an und die Puppen darin sehen so leblos aus ...

Die Jungs wissen nicht, was sie von dem Tagebuch halten sollen. „Was sie da beschreibt, ist irgendwie ... unheimlich. Ob sie von den Puppen schreibt, die dort auf der Kommode liegen?", fragt Jordan. Vorsichtig blicken die Drei noch einmal zu der alten, abgeranzten Kommode mit den widerwärtigen Porzellanpuppen. Regungslos liegen sie da. Was soll man auch anderes erwarten? Sie vertiefen sich abermals in das Tagebuch, dessen Seiten schon teils lose sind.

24. Dezember 1917

Heute Nacht ist Heiligabend, aber es fühlt sich nicht so an. Mama sagt, Krieg sei der Dieb der Freude, und ich glaube, sie hat recht. Unser Haus, das einmal so voller Lachen und Wärme war, fühlt sich jetzt an wie ein kalter, leerer Platz. Kein Weihnachtsbaum, keine Geschenke. Nur das Knistern des Kaminfeuers. Ich liege in meinem Bett und lausche dem Wind, der wie Geisterflüstern klingt. Manchmal, wenn ich durch die dunklen Flure gehe, sehe ich aus den Augenwinkeln Schatten, schneller als ich blinzeln kann. Ich sage es niemandem. Sie würden sowieso nur sagen, es sind die Spiele eines Mädchens. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was die Dunkelheit flüstert.

Ein eisiger Schauer breitet sich in den Knochen der Jungs aus, als sie das Tagebuch lesen. „Was zur Hölle war hier los?", fragt sich Alex. „Meint ihr, Elisabeth konnte tatsächlich ... Geister sehen?", zögert Casey. „Nein, das ist doch Unsinn!", meint Jordan. „nichtsdestotrotz hat Elisabeth davon geschrieben. Vom Flüstern der Dunkelheit", fügt Alex hinzu. Kalter Wind zieht durch das längst verlassene Kinderzimmer von Elisabeth. „Vielleicht sollten wir noch weiter in anderen Räumen suchen", schlägt Jordan vor. Alex und Casey nicken. Das Tagebuch wird, so gut es mit der alten Schnur geht, wieder von Alex zugebunden. Sie verlassen das Kinderzimmer und blicken wieder in den langen, dunklen Gang, in dem sie zuvor waren. „J-Jungs?", stammelt Casey leise. „War die Tür da vorne nicht abgeschlossen?" Alex leuchtet auf die Tür, die er zuvor versucht hatte zu öffnen. Sie steht einen Spalt offen und Dunkelheit verschluckt das Licht der leicht flackernden Taschenlampe von Alex. „Vielleicht war sie doch nicht verschlossen und hat nur geklemmt?", meint Jordan. Vorsichtig treten sie näher an die nun offene Tür. Alex streckt langsam seine linke Hand aus, um nach dem Türgriff zu greifen. Langsam drückt er die quietschende Holztüre auf. „Mir gefällt das hier ganz und gar nicht", zittert Casey. „Reiß dich zusammen, Mann!", murmelt Alex, während seine Taschenlampe in der rechten Hand leicht zittert.

Sie leuchten den Raum ab. Meterhohe Bücherregale, große Ledersessel, am Ende des Raums ein massiver Holzschreibtisch. Das Arbeitszimmer von James Vanhurst. „Vielleicht finden wir hier mehr Aufzeichnungen", stammelt Jordan. Einer nach dem anderen betreten sie das verwitterte, aber dennoch elegant eingerichtete Arbeitszimmer. „Ihr zwei schaut euch bei den Bücherregalen um. Ich sehe mir den Schreibtisch genauer an", befiehlt Alex. Die Bücherregale sind bis zum Bersten gefüllt mit alten Büchern. Die meisten schon gar nicht mehr lesbar. Alex begutachtet währenddessen den Schreibtisch. Auf ihm steht eine alte, leere Whiskyflasche und ein paar verblasste, staubige Notizen. Aufzeichnungen von Handelsgeschäften. Beim genaueren Betrachten des Tisches fällt ihm eine Schublade auf. Sie hat ein kleines, messingfarbenes Schlüsselloch. Verschlossen, denkt sich Alex. Er legt das Tagebuch auf den Schreibtisch und einige der losen Seiten fallen heraus. „Scheiße", rutscht es aus Alex heraus. „Alles gut bei dir?", erkundigt such Jordan, weiter die Bücherregale absuchend. „Ja, mir sind nur ein paar Seiten aus dem Tagebuch herausgefallen und unter den Tisch geflogen." Alex bückt sich, um die losen Seiten unter dem Tisch aufzuheben, als er etwas Kleines, leicht glänzendes sieht. „Ich glaube, ich habe den Schlüssel für die Schublade hier gefunden!", ruft er. „Was ein glücklicher Zufall", stammelt Casey, der sich nun auch Richtung Schreibtisch bewegt. „Los, probier ihn aus", sagt Jordan ungeduldig, der inzwischen auch vor dem Schreibtisch steht. Alex fummelt den kleinen Schlüssel in das Schlüsselloch und versucht ihn zu drehen. „Ha! Er passt!" „Was da wohl drin ist?", fragt sich Casey. „Wir finden es gleich heraus", erwidert Alex. Er zieht kräftig an der klemmenden Schublade, bis sie sich mit einem ruckartigen Satz öffnet. Jordan greift voreilig in die offenstehende Schublade und bemerkt einen Stapel Papiere. „Seht mal Jungs! Das ist bestimmt wichtig", sagte er entschlossen. Alex richtet seine Taschenlampe auf die Papiere, die Jordan auf dem Schreibtisch ausbreitet. Es sind medizinische Berichte. 


Örtliches Klinikum Ravenwood

Akte Nr. 1046

Mrs. Julia Elisabeth Vanhurst

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Beginn der Schwangerschaft: 10. Juli 1898

Abbruch der Schwangerschaft: 4. Oktober 1898

Grund: Infektion

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Beginn der Schwangerschaft: 2. Februar 1902

Abbruch der Schwangerschaft: 6. August 1902

Grund: Problematische Anomalien der Gebärmutter

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Beginn der Schwangerschaft: 7. Mai 1903

Abbruch der Schwangerschaft: 4. Juli 1903

Grund: Innere Blutungen

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Beginn der Schwangerschaft: 4. April 1905

Abbruch der Schwangerschaft: 7. November 1905

Grund: Totgeburt

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Physischer Befund

Der Patientin wird aus medizinischer Sicht dringend davon abgeraten, eine weitere Schwangerschaft zu versuchen. Ihr Körper scheint sich aus unerklärlichen Gründen, jedes Mal gegen den Fötus zu wehren.

Mentaler Befund

Die Patientin weist eine immer größer werdende Instabilität auf. Der leitende Oberarzt der Psychiatrie rät ihr, von weiteren Schwangerschaften abzusehen. Andernfalls sehen wir uns gezwungen, die Patientin in die örtliche Nervenklinik einzuweisen, bevor sie oder andere zu Schaden kommen.

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Ende des Berichts. Schweigen und Kälte erfüllt abermals den sowieso schon viel zu stillen Raum. „Die Ärmste hat die Hölle auf Erden durchlebt", meldet sich Casey leise zu Wort. Wieder Schweigen. „Aber ... was ist mit Elisabeth?", fragt Jordan. „Wie kann es sein, dass sie eine Tochter hatten, wenn Mrs. Vanhurst nicht schwanger werden konnte?" „Vermutlich durch Adoption", stammelt Alex. „Aber zu diesen Zeiten? Bestimmt war das nicht gut für ihr Ansehen", ergänzt er. „Wie kommst du denn darauf?", will Jordan wissen. „Na ja, überleg doch mal. Die Vanhursts waren eine angesehene und einflussreiche Familie. Was denkst du denn, wie sich das in der damaligen Zeit auf ihren Ruf ausgewirkt hat? Mrs. Vanhurst verliert ein Kind nach dem anderen über Jahre hinweg, das Letzte sogar auf tragischste Art und Weise. Dazu noch an einem Ort wie diesem. Die Schutzpatronen von Dunraven, unfähig, Nachkommen zu zeugen. Fast so ..." „Als wären sie verflucht", unterbricht Casey Alex und beendet seinen Vortrag. „Aber wo kam Elisabeth her? Irgendwo hier müssen wir doch etwas dazu finden. Adoptionsunterlagen oder irgendeinen anderen Anhaltspunkt", meint Jordan. „Vielleicht finden wir ja in ihrem Tagebuch noch etwas. Die letzten Seiten hier drin sind vom 05. Juni 1919. Aber ich glaube, hier fehlen einige Seiten." Alex zeigt auf das Tagebuch, aus dem offensichtlich von ganz hinten Seiten herausgerissen wurden. „Sollen wir uns im Gasthaus erst einmal das Buch in Ruhe durchlesen?", schlägt Casey vor. „Gute Idee", entgegnet Alex. Sie klappen das Buch zu, kramen die losen Seiten und Krankenhausberichte zusammen und drehen sich Richtung Zimmertür, die Taschenlampen wieder fest im Anschlag. Sie treten vor das Zimmer, zurück in den unheimlichen Gang. Ein eiskalter Luftzug fegt durch den Flur und schlägt die Tür hinter ihnen zu und sie drehen sich erschrocken um und blicken auf die geschlossene Tür. „S-Scheiße Mann, was ist hier los?", stammelt Casey. Ihre Taschenlampen fangen an zu flackern. „So eine Scheiße", schnaubt Jordan. Als sie sich verängstigt wieder umdrehen und dem dunklen, schaurigen Kinderzimmer gegenüberstanden, sitzen dort in der Türschwelle auf dem Boden die weißhäutigen Porzellanpuppen mit verdrehten Köpfen. Ihre schwarzen Augen direkt in die Seelen der drei Freunde starrend.

Schatten über DunravenWhere stories live. Discover now