Kapitel 9: Die Wahrheit hinter dem Fluch

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Alex fängt an, mit zittriger Stimme die erste Seite laut vorzulesen, während Casey die Taschenlampe auf das alte Papier richtet. "2. April 1920 - Heute ist ein sehr schöner Frühlingstag ...

... Ich spiele draußen im Garten mit Mr. Teddy. Auch wenn ich schon langsam zu alt für Kuscheltiere werde, kann ich mich von ihm einfach nicht trennen. Die warme Frühjahressonne scheint mir auf mein weißes Kleid, das sanft im Wind tanzt. Die Blumen blühen, die Bienen summen und ein süßer Duft erfüllt die Luft. „Elisabeth!", dröhnt es aus unserem Haus und trifft auf meine Ohren. Es war Vater, der mich scheinbar ruft. Ich drehe mich um und sehe, wie er die große Treppe hinab in den Garten kommt. „Was ist Vater?", frage ich ihn mit einem verspielten Lächeln. Aber Vater sieht irgendwie wütend aus. Er stürmt regelrecht auf mich zu. „Elisabeth!", schreit er erneut, mit schnellen Schritten auf mich zukommend. In der linken Hand hält er mein Tagebuch. Ich zucke zusammen, als er vor mir steht und mich grob an meinem rechten Arm packt. „Was zum Teufel ist das hier?", fragt er mit erzürnter Stimme. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Deine Gedanken sind wirr! Schatten, die über die Gänge huschen, der Teddy, der zu dir spricht und weint, dazu all der Unsinn, den du machst! Du sitzt hier und sprichst bestimmt wieder mit deinem Teddy, hm?" „Aber Vater, lass mich erklär ..." Ich kann meinen Satz nicht beenden, denn Vater hat mir eine so starke Ohrfeige verpasst, sodass ich nicht mehr wusste, wo unten und oben ist. Tränen fließen mir über die Wangen. Tränen des Schmerzes und der Trauer. „Deine Mutter und ich haben dich gewarnt", sagt er mit wütendem Ton. Er fängt an mich hinter sich herzuschleifen. „Vater! Bitte nicht! Es tut mir leid!", versuche ich mich zu entschuldigen. Aber Vater bleibt stur. Er zerrt mich die Treppe rauf, hinein in das Anwesen, durch die Gänge bis hin zur Eingangshalle. „Vater! Bitte!", meine Tränen fließen unaufhörlich aus meinen Augen. Mutter steht, oben am Ende der Treppe und beobachtet, was Vater mit mir macht. „Mutter! Bitte, ich flehe dich an!", rufe ich durch die große, prunkvolle Halle. Doch sie blickt nur mit zynischer Mine zu mir hinunter. „Ich bin nicht deine Mutter und du wirst niemals meine Tochter sein!", hallt es durch den gesamten Raum. Ihre Worte schmerzen sehr in meinem Herzen und ich blicke sie mit unglaubwürdigen, nassen Augen an. Sie dreht sich um und geht auf unsere Gemälde zu, zückt ein kleines Messer und fängt an, das Gesicht meines Bildes herauszuschneiden. Das macht sie, um zu verdeutlichen, wie sehr sie mich verabscheut. Vater hat mich währenddessen schon zu der Tür gezerrt, die in das Kellergewölbe führt. Erneut flehe ich ihn an, aber er bleibt stur. Mir schießen nach wie vor Tränen aus den Augen und ich kann nicht begreifen, warum er das macht. „Die Ärzte meinen, das ist zu deinem Besten... zu unserem Besten", erklärt er. Ich frage mich was er damit meint mit „Das". Er zieht mich, den feuchten Keller entlang, hinter sich her. Wir machen vor einer unheimlichen Tür halt. Er öffnet die Tür und ich erblicke einen leeren Raum, mit einem Tisch und einer Fessel an der Wand. Ich fange an zu schreien, als ich realisiere, was er vorhat. „NEIN! NEIN! NEIN!" Doch Vater bleibt weiter stur und schubst mich in den Raum und schließt die Tür hinter sich. Perplex kauere ich auf dem kalten, feuchten Boden, bis er wieder meinen Arm packt und mich zu der Wand mit der Fessel schleift. Er zieht mich über den ganzen, rauen Boden. Meine Beine sind schon ganz wund. „Vater, BITTE!" Ich kreische, schreie und weine. Vater packt mein Handgelenk und befestigt es in der Handfessel an der Wand. „Hoffentlich treibt dir das hier die Flausen aus dem Kopf, du verrückte Göre!" Er nimmt mein Tagebuch, reißt ein paar Seiten heraus und wirft sie, samt einem Stift, auf den Boden vor mir. Meine Augen sind so voller Tränen, dass ich nur schwer erkennen kann, wie er den Raum verlässt. „VATER! MUTTER! ICH LIEBE EUCH DOCH!" Meine Schreie folgen ihm aus dem Raum raus, den er nun verlassen hat. Die Tür fest verschlossen. Jetzt sitze ich hier, angekettet in diesem dunklen, kalten Keller. Weinend und mutterseelenallein. 

Die Tage vergehen, ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele schon vorübergezogen sind. Ich habe aufgehört zu zählen. Die einzigen Menschen, die ich sehe, sind Bedienstete, die mir wortlos Essen und Trinken in dieses Loch hier bringen. Ich vermisse meine Eltern und auch Mr. Teddy. Wenn es Nachts ganz leise ist, höre ich ihn weinen. Ich glaube, er vermisst mich auch.

Mittlerweile sind bestimmt schon einige Wochen vergangen, aber das ist nicht schlimm. Ich bin nämlich nicht mehr allein. Die Schatten sind bei mir und flüstern mir ins Ohr. Sie sind aber sehr wütend auf Mutter und Vater. Wütend darüber, dass sie mich hier allein in diesem Keller lassen. Bestimmt kommen sie irgendwann wieder.

Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich weiß nicht, ob Tag oder Nacht ist, weiß nicht, welche Jahreszeit wir haben. So lange sitze ich schon hier unten. Mr. Teddy höre ich nicht mehr weinen. Vielleicht haben meine Eltern ihn weggegeben und wird jetzt woanders glücklich. Das ist schade, aber auch okay, denn ich habe neue Freude gefunden. Immer mehr Schatten sind hier bei mir und erzählen mir alle möglichen Dinge. Manche sind wütend, manche sind lustig. Ich mag meine neuen Freunde sehr. 

Die Blicke der drei Jungs strahlen pures Entsetzen aus, nachdem sie Elisabeths Worte gelesen haben. „Wie konnten sie ihr das nur antun? Ich begreife es einfach nicht", stammelt Jordan. „War das alles?", erkundigt sich Casey. „Nein, eine Seite haben wir noch. Aber die Schrift sieht ganz anders aus", meint Alex. Die sonst so elegante, schnörkelige Handschrift von Elisabeth ist auf der letzten Seite kaum noch wiederzuerkennen.

Nach einer halben Ewigkeit ist Vater zu mir in den Keller gekommen. Er entriegelt die Tür und blickt mich an. „Morgen ist dein Geburtstag Elisabeth, dann wirst du 16 und wir können dich endlich vermählen. Dann sind wir dich endlich los." Morgen ist also mein Geburtstag. Ist etwa schon so viel Zeit vergangen? „Ich hoffe, du hast so weit deine Lektion gelernt. Wenn ja, darfst du wieder hochkommen." Ich nicke ihm stumm zu. „Gut. Die Dienstmädchen sollen dir helfen dich für morgen herzurichten. Deine Verehrer sollen schließlich nicht denken, dass du irgendeine Straßenhure wärst. Und überlege dir, was du deinen Gästen morgen zu Essen anbieten möchtest." Wieder nicke ich ihm stumm zu. Er kommt auf mich zu und löst die Fessel von meinem wunden Handgelenk und gemeinsam gehen wir stillschweigend nach oben.

Dienstmädchen nehmen mich mit und richten mir das Haar. Sie suchen mir ein schönes Kleid heraus und waschen mich. Für meinen Geburtstag möchte ich etwas ganz Besonderes für mich und meine Eltern. Ich gehe nach draußen, über unseren Garten hinaus. Ich möchte Törtchen backen und brauche dafür noch ein paar Zutaten. Ich erinnere mich an den Strauch mit den Beeren von letztem Jahr. Sie wären perfekt geeignet. Ich sammle so viele Beeren wie nur möglich und kehre zurück zu unserem Anwesen, wo ich rasch in der Küche verschwunden bin. Ich habe den Angestellten gesagt, sie sollen mich alleine lassen, denn ich möchte etwas ganz Besonderes machen. Voller Freude bereite ich drei Törtchen zu. Sie sind klein und weiß mit einer köstlichen Füllung aus Beeren. Es ist nun schon spät am Abend und die Bediensteten waren alle schon weg. Aber ich möchte sie unbedingt Mama und Papa zum Probieren geben. Ich klopfe leise an ihre Zimmertür und trete ein. „Was willst du, Elisabeth?", fragt mich Vater ungeduldig. „Ich habe diese Törtchen hier gemacht für die Feier morgen. Aber ich möchte, dass ihr sie heute schon kostet." Ich lächle sie an. „Elisabeth, wir erkennen dich kaum wieder!", sagt Mutter mit einem leicht freudigem Unterton. Ich reiche ihnen die Törtchen und sie probieren. „Mmh, die sind wirklich lecker." Vater ist begeistert und isst das Törtchen ganz schnell auf. Auch Mutter verschlingt es regelrecht. „Ich freue mich, dass sie euch schmecken. Ich wollte, dass das Letzte, was ihr jemals essen werdet, köstlich ist." Ich grinse sie mit einem breiten Lächeln an und Mama und Papa fangen an zu husten. Sie husten und würgen und ringen nach Luft. „Elisabeth ..." Das sind die letzten, röchelnden Worte von Vater. Ihre Augen färben sich schwarz und die Haut wird langsam blass. Ich habe sie in ewigen Schlaf geschickt, so wie die Schatten es von mir verlangt haben. Ein letztes Mal gehe ich zurück in den Keller, um mit den Schatten zu sprechen. Aber jetzt sind sie stumm. Keine Schatten mehr. Kein Weinen. Kein Schmerz. Jetzt gibt es nur noch eins für mich zu tun. Ich begebe mich zu meinen Eltern in den ewigen Schlaf, wo wir für immer vereint sind. 


Schatten über DunravenWhere stories live. Discover now