Give Me Your Attention ~ Candelion

24 2 0
                                    

Pünktlich um 6:35 klingelt mein Wecker, doch statt meines Alarms höre ich nur "How Far We've Come" wie an so vielen Morgenden.
Ausnahmsweise denke ich gar nicht erst darüber nach auf Snooze zu drücken. Ich habe schon gestern die ganze Zeit auf heute gewartet und das passiert bei einem Montag wirklich nicht häufig.
Ich starte irgendein Lied auf meinem Handy. Welches ist sowieso egal, da klar ist, dass ich erstmal dasselbe auf Dauerschleife hören würde.

Während ich mich aus dem Bett hieve und mich umziehe, singe ich leise mit:
"I think it turned ten o'clock but I don't really know
Then I can't remember caring for an hour or so
Started crying and I couldn't stop myself
I started running but there's no where to run to
I sat down on the street and took a look at myself
Said where you going man you know the world is headed for hell"
Inzwischen kenne ich das Lied komplett auswendig.

Heute läuft meine Morgenroutine so smooth ab, dass ich schon um 7:00 komplett fertig bin und losfahren könnte-
Allerdings startet der Unterricht erst zehn vor und so lange brauche ich mit dem Auto wirklich nicht.
Ich bin noch gut 15 Minuten mit meinem Handy beschäftigt, das währendessen beginnt, andere Lieder abzuspielen. Dann entscheide ich mich doch dazu, schon das Haus zu verlassen. In der Schule kann ich genauso gut vorm Handy hängen. Was soll's also?
Und sie kommt ja auch meist überpünktlich- glaube ich. So ganz kann ich das nicht bezeugen, da ich selten früh da. Meine Annahme beruht alleinig auf Stichproben und ich denke nicht, dass ich die richtige Person bin, um sowas zu analysieren. In meiner letzten Analyse hatte ich eine 4, keine gute 4.

Im Auto schalte ich das Auto an, um weiterhin ihre - also wohl Jeans - Musik zu hören. Kurz nachdem ich losgefahren bin, fängt Geronimo an zu spielen. Mein Herz macht einen Sprung.
Vor Samstag habe ich dieses Lied seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Ehrlich gesagt würde ich auch nicht sagen, dass es ein gutes Lied ist- zumindest nicht gut genug, um es heutzutage noch zu hören.
Vielleicht denkt sie an Samstag zurück. Vielleicht denkt sie daran wie wir getanzt haben, wie wir gesungen haben und wie sich unsere Hände berührt haben, denn genau das habe ich getan. Ich habe den ganzen Tag gestern mit fast nichts anderem verbracht. Zeitgleich wollte ich einfach nur, dass das Wochenende endet, weil Montag heißt, dass ich Jean in der Schule sehe.
Ich glaube nicht, dass es sonst jemand bisher geschafft hat, so viel in mir auszulösen.

Geronimo endet. Danach beginnt das Lied von vorn. So wie es aussieht hören wir es nun auf Dauerschleife.

Als ich an der Schule ankomme, klappe ich erstmal den Spiegel im Auto herunter und probiere meine Locken zu richten.Das funktioniert nur so semi. Der Rest meines Gesichts ist auch verbesserungswürdig, aber das lässt sich nicht so leicht ändern.
Leider.
Bevor ich aussteige, werfe ich mir ein Kaugummi ein. Ich habe zwar heute morgen nicht geraucht, aber möchte trotzdem auf Nummer sicher gehen.

20 Minuten zu früh, mit dem funktionierenden Hörer im Ohr und kaugummikauend schlendere ich in Richtung meines Deutsch-Raums. Nie hätte ich gedacht, dass ich mal so früh wäre, aber here we are.
Allmählich überfällt mich die Aufregung.Ich kann kaum sagen wieso. Es macht keinen Sinn.

"Du? Hier? Um diese Uhrzeit?", fragt mich eine Stimme von hinten.
Jeans Stimme.
"Das glaube ich ja nicht. Was ist in dich gefahren??"

Ich drehe mich um, nur damit ich ihr sarkastisches Grinsen sehen kann. Sie nimmt sich einen ihrer Airpods raus.
Beinahe hätte ich etwas wie 'du, du bist in mich gefahren' gesagt, aber das kann ich nicht bringen. Ich weiß allerdings genauso wenig, was ich stattdessen sagen soll. Dass immer noch Geronimo in meinem Ohr zu hören ist, macht es nicht viel besser:

It all comes down to you and me
To me and you, you and me

"Hey Jean", begrüße ich sie nach viel zu langer Stille, da mir nichts Besseres einfällt. Ich bin wohlmöglich nicht der Hellste, aber das wird sie inzwischen ohnehin bemerkt haben.
"Wie geht's dir inzwischen?", füge ich dann noch hinzu. Ich hatte überlegt ihr genau diese Frage schon gestern zu schreiben, habe es aber dann gelassen und gehofft sie würde mir schreiben.
Fehlanzeige.

Es ist etwas komisch sie nach Samstag wieder in der Schule zu sehen. Sie sieht genauso perfekt aus wie immer, während sie in Wirklichkeit mehr als das ist. So ganz kommt das noch nicht in meinen Kopf.

"Alles gut. Meine Eltern haben nichts mitbekommen. Konntest du deine kognitive Dissonanz verarbeiten, die ich in dir ausgelöst haben muss?" Wieder grinst sie mich an. Zu doof, dass sie annimmt, ich wüsste, was kognitive Dissonanz heißt.
Ich nicke einfach. Wenn Jean etwas sagt, wird schon was dran sein.

"Aber jetzt mal ernsthaft, Nash. Es tut mir echt leid, dass du dir das antun musstest."

"Ach, kein Ding", beschwichtige ich sie, obwohl es sehr wohl ein Ding war. Ich bin froh geblieben zu sein. Absolut widerlich war es trotzdem.

Jean tritt einen Schritt näher an mich ran, sodass wir uns im vollkommen leeren Flur so nah gegenüber stehen, dass kaum ein halber Meter Platz zwischen uns ist. Das Herz in meiner Brust fängt an so schnell zu schlagen als ich würde ich gerade einen Marathon laufen.
Eric könnte recht haben. Vielleicht mag ich- nahhh.

"Ich habe dafür eine kleine Entschädigung für dich. Öffne mal deine Hand."
Ich habe absolut keine Ahnung, was ich erwarten soll, mache aber was sie sagt. Egal, was es ist, es ist allein besonders, dass sie an mich gedacht hat.
Oft passiert das nicht.

Sie legt ein Paar Kabelkopfhörer in meine Hand. Wortlos starre ich erst die Kopfhörer und dann sie an. Es sind sogar welche von Sony.

"Seit ich Airpods habe, benutze ich die sowieso nicht mehr. Und keine Sorge. Ich habe sie vorher sauber gemacht. Ich dachte du könntest Musik in beiden Ohren vertragen." Nachdem sie das sagt, lächelt sie so sehr, dass man selbst an ihren Augen erkennt, dass sie lächelt. Sie sieht so süß aus.

"Aber woher wusstest du..?", wundere ich mich. Ich meine nicht, dass ich ihr erzählt hätte, dass der eine Hörer nicht funktioniert.
"Du nimmst immer den rechten Hörer raus, wenn du angesprochen wirst, auch wenn du was in der rechten Hand hälst. Normalerweise nehmen Leute dann mit der linken Hand den Linken raus. Und immer wenn du wie jetzt auch, nur einen Hörer trägst, ist es der Linke," erklärt sie. Ich bin davon beeindruckt wie schlau Jean ist. Mir wäre sowas nie im Leben aufgefallen.

"Stalkst du mich etwa?" Ich setze ein Grinsen auf und schaue ihr direkt ins Gesicht. Falls ich mich nicht versehe, laufen ihre Wangen rot an. Sie tritt einen kleinen Schritt nach hinten.
"Pfft", macht sie. "Das hättest du wohl gerne." Naja. Dagegen hätte ich ehrlich gesagt echt nichts.

"Wie wär's mit einem Danke?"

Lächelnd seufze ich. "Danke, Jean. Ich bin wirklich dankbar. No Joke."
Ich stöpsel die alten Kopfhörer aus und die neuen ein und probiere sie direkt mal aus. Davon abgesehen, dass beide Seiten funktionieren, ist der Sound tausendmal besser. Das Gefühl ist unglaublich. Am liebsten würde ich so viel Verschiedenes mit ihnen ausprobieren, aber derzeit habe ich keine andere Wahl als Geronimo zu hören.

Jean spricht mich an, allerdings verstehe ich sie nicht.
"Hm?" Ich ziehe mir einen Hörer aus dem Ohr- den Linken, weil ich ja mein Handy in der rechten Hand halte.

"Ich wollte wissen, was du hörst", wiederholt sie ihre Frage.
"Ach egal", verweigere ich mich einer Antwort. "Lass langsam in den Raum." Auch wenn hier inzwischen ein paar Leute durch die Gänge laufen, sind wir noch früh dran.

"Was hörst du denn?", erkundige ich mich auf den Weg.

"Geronimo."
Ich bin überrascht, dass sie nicht lügt.

"Lass mich raten", murmel ich und spreche selbstsicher die Lyrics, bei denen sie gerade sein müsste:"Wanna get you outta here. There's too much smoke in this atmosphere. I just wanna see you bright and clear"

"Oh God", staunt Jean mit offenem Mund. "Das war zu 100% richtig! Wie?? So laut hab ich die Musik bestimmt nicht- außer meine Eltern haben recht und ich werde langsam taub, weil ich zu viel Musik höre."

"Vielleicht haben sie das", sage ich extra laut, woraufhin sie mir gegen die Schulter boxt.
"Idiot"

Wir kommen im Raum an und nehmen nebeneinander Platz. Sie holt bereits vorbildlich die Unterrichtsmaterialien aus der Tasche, während ich vorm Handy sitze und die Kopfhörer genieße.
Zu meiner Überraschung handelt es sich beim nächsten Lied nicht zum x-ten Mal um Geronimo, sondern um eines, das mir gerade gar nichts sagt. Mein Blick huscht zu Jean hinüber.
Dann schreibe ich die Lyrics auf meinem Handy mit, damit ich sie später googeln kann.

You know this could be ‌like a film
I am right hеre ‌
Doing my best to make you feel likе I do
Mmm, and just for a second
You're looking at me
Making me feel like maybe you want this too

Deine MusikWhere stories live. Discover now