Kapitel 33: Sol

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,,Aber auch nicht lebendig'', revidierte er meine Aussage. In seinem Blick lag eine solche Bitterkeit, dass sich mein Herz zusammenkrampfte. Er hatte nie gewusst, wie er mit seiner Rolle als Sensenmann zurechtkommen sollte. Darauf schien er noch immer keine Antwort gefunden zu haben.

,,Das stimmt nicht.'' Ich schüttelte den Kopf und legte meine Hand auf seine Brust, unter der ich ein dumpfes Pochen vernahm. Es war schwach, aber es war da. ,, Auch wenn du es selbst nicht sehen kannst, steckt mehr Leben in dir als Tod. Ich kann spüren, wie stark deine Seele ist und wie sehr sie dich lebendig macht. Athanasios muss sich damals in dir geirrt haben. Denn auch seine Schatten können nach all den Jahren nicht das Licht in dir vertreiben.''

Vorsichtig strich ich ihm eine verirrte, gräuliche Haarsträhne aus der Stirn.

Er hatte selbst gesagt, er könnte nicht schlafen. Niemals. Und doch schlief er tief und fest.

Schon in den vergangenen Tagen hatte ich bemerkt, dass er Schmerzen hatte. Auch wenn er es nie aussprach, sah ich, wie er mit sich kämpfte und sich täglich veränderte. Wenn ich ihn darauf ansprach, wechselte er das Thema oder ging mir aus dem Weg.

Ich fragte mich, wie lange er noch verbergen wollte, dass etwas nicht stimmte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen wurden mit jedem Tag größer und bildeten einen Kontrast zu seiner erbleichten Haut, die zunehmend aschfahl wirkte. Das Tattoo auf seinem Hals verblasste immer mehr. Nur schwach waren noch die Konturen des Rabens zu erkennen. Während sie bei ihm fast vollständig verschwanden, wuchsen sie auf meiner Haut. Es wirkte fast, als würde es auf mich überwandern. Immer wenn ich ihn fragte, was das zu bedeuten hatte, sagte er mir, ich sollte mir keine Gedanken machen und dass es zu unserer Seelenverwandtschaft dazugehörte. Doch aus einem unerfindlichen Grund glaubte ich ihm nicht.

Während es mir selbst mit jedem Tag besser ging, wirkte Atlas immer erschöpfter. Ich fragte mich, ob es daran lag, dass er mir meinen Schmerz nahm, damit ich in meinen letzten Tagen unbeschwert leben konnte. Doch wenn es bedeutete, dass er meinen Schmerz spüren musste, wollte ich seine Fürsorge nicht. Doch immer, wenn ich ihn darauf ansprach, sagte er, dass es ihm gut ginge.

Im Endeffekt konnte ich Atlas nicht umstimmen. Vielleicht konnte er nur auf diesem Weg damit umgehen, dass unsere Zeit mit rasender Geschwindigkeit zu Ende ging. Mittlerweile musste ich mich im Endstadium befinden. Morgen hatte ich einen Termin bei Dr. Forster. Mir graute es davor und doch musste ich meinem Schicksal ins Auge sehen. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis Amy unseren Kampf über mich gewinnen würde. Ich würde wohl den August nicht mehr erleben. Doch das war okay. Zumindest war es das, was ich mir einredete.

Amy hatte sich in den letzten beiden Wochen nur noch selten zu Wort gemeldet. Es war fast so, als wäre sie endlich verstummt. Oder mein Gehirn hatte es endlich geschafft, ihr einen Maulkorb anzulegen.

Doch ich war froh darüber. Denn so konnte ich die Zeit mit Atlas genießen und musste mir kein genervtes Gestöhne anhören, wenn ich ihn wieder und wieder küsste.

Mein Blick wanderte über seine definierten Gesichtszüge. Leicht fuhren meine Fingerspitzen über seine Wange, über sein Kinn, bis zu seinen weichen Lippen. Langsam beugte ich mich vor und schloss die Augen, ehe ich seinen Mund mit meinen Lippen verschloss. Alles in mir begann zu kribbeln, als würde eine Armee von Ameisen über meine Haut marschieren. Ich genoss das Gefühl seiner kalten Lippen auf mir, ehe ich mich schweren Herzens von ihm löste.

Ich würde ihm heute einen Tag Ruhe gönnen. Er war sicherlich erschöpft davon, immer an meiner Seite zu sein.

Heute würde ich allein auf Arbeit gehen. Kain war in den vergangenen Wochen nicht aufgetaucht. Das würde er auch heute nicht.

Soulless - Auf ewig verbundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt