Kapitel 32: Atlas

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Kurz bildete ich mir ein, einen Ausdruck von Schock in Kains blutunterlaufenden Augen gesehen zu haben, doch ich konnte es mir auch eingebildet haben. Denn in der nächsten Sekunde verhärteten sich seine scharfen Kiefermuskeln und er spannte sich an.

Kains Macht war zwar stark, aber auch er konnte nichts gegen einen Gott ausrichten. Er war nicht so dumm, ihn herauszufordern – das war niemand. Deshalb senkte er leicht seinen Kopf, um dem Schicksalsgott zu signalisieren, dass er verstanden hatte.

,,Und nun verschwinde! Heute gibt es nichts für dich zu holen'', sagte Dante mit scharfer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

Mit einem Mal verschwand die erdrückende Macht, die alle Anwesenden an Ort und Stelle gehalten hatte. Sofort löste sich der Druck um meine Brust. Ohne groß darüber nachzudenken, setzte ich mich in Bewegung und lief auf meinen Gefährten zu, der sich noch immer nicht rührte. Ganz sanft nahm ich seinen schlaffen Körper in meine bebenden Hände, ehe ich mit dem Raben im Arm auf Sol zuging. Diese hatte sich mittlerweile in eine sitzende Position aufgerichtet und lehnte an der Wand. Ihr Atem röchelte und ging stoßweise. Doch ihr schien es den Umständen entsprechend gut zu gehen.

Als ich bei ihr war, nahm ich sie wortlos in meine Arme und bettete ihren Kopf an meine Brust. Wir beide wussten, dass ich versagt hatte – mal wieder. Und wieder musste sie und Horus den Preis für meine Schwäche zahlen. Zitternd verfestige ich den Griff um meinen Gefährten und strich sanft über sein Federgewand.

Eine warme Berührung an meinen Fingerspitzen ließ mich zurückzucken. Tränen liefen ihr über das bleiche Gesicht, als sie ihre Hand vorsichtig auf Horus' Kopf legte.

,,Das ist alles meine Schuld'', wisperte sie erstickt. Ein Teil von mir starb bei ihren Worten.

,,Nichts davon ist deine Schuld. Hast du gehört?'', sagte ich mit fester Stimme und zwang sie dazu, mich anzusehen. ,,Horus wird wieder gesund. Ich kann es spüren'', versicherte ich ihr und legte ihre Hand an meine Brust.

Noch ehe ich etwas weiteres zu ihr sagen konnte, spürte ich eine mächtige Präsenz hinter mir. Sofort war ich in Alarmbereitschaft versetzt und drehte mich um. Mein Blick begegnete Kains ausdruckslosen Gesicht, das mich starr ansah. Die Hand, in der er die zwei Meter große Sense hielt, zitterte. Pechschwarzer Nebel windete sich um seinen muskulösen Körper. Die Sehnen an seinem Bizeps waren zum Zerreißen gespannt.

Stumm schien er mit etwas mitzuteilen wollen, doch ich erkannte nicht, was es war. Ehe die Rauchschwaden ihn komplett verhüllten, trafen seinen blutroten Augen auf Sol.

,,Du wirst nicht immer von ihnen geschützt werden. Früher oder später werde ich dich kriegen. Und bis dahin werde ich geduldig warten.''

Als Kain von der Dunkelheit verschluckt wurde, ballte ich die Hand zu Fäusten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Seelenvereinigung ein Stadium erreichte, in dem nicht einmal Athanasios eingreifen konnte. Bis dahin musste ich sie unter allen Umständen beschützen. Auch wenn es bedeutete, dass ich dem dauergrinsenden Sonnenschein dafür einem Gefallen schuldete. Denn nur Dante konnte sie vor Kains Macht bewahren.

Es wird mir eine Ehre sein, meine Schwägerin zu beschützen, hörte ich Dante protzend in meinen Gedanken. Ich verdrehte die Augen und begegnete seinem Blick. Als wäre er vor ein paar Minuten nicht zu einem wahrhaftigen Gott mutiert, stand er augenbrauenwackelnd vor mir. Klasse, er hatte die Eintrittskarte zum Bällebad wohl wiedergefunden.

,,Lass mich das Federvieh mal ansehen'', sagte er, ohne auf meinen Kommentar einzugehen, und beugte sich zu meinem Raben hinunter.

In dem Moment, als seine Hand Horus berührte, riss der Vogel das Auge auf und krächzte lauthals auf. Sofort begann er mit den Flügeln zu schlagen, um sich gegen Dantes Kuschelversuche zu wehren.

Soulless - Auf ewig verbundenWhere stories live. Discover now