Kapitel 27: Sol

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Jeden Tag warst du dabei, ein Kartenhaus zu errichten und plötzlich zog dir jemand eine Karte heraus. Das instabile Gebilde brach ohne Warnung vor deinen Augen zusammen und alles, was du tun konntest, war dabei zuzusehen.

,,Sol, was ist hier los?'' Eine Mischung aus Panik und Verwirrung spiegelte sich in ihren geröteten Augen, die immer wieder zwischen mir und der Ärztin hin und her huschten.

Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass sie es hier auf diese Weise erfahren würde. Mein Körper versteifte sich unter ihrem anklagenden Blick. Ich fühlte mich miserabel, als ich sah, wie immer mehr Tränen ihre Augenwinkel verließen. Krampfhaft versuchte ich zwischen all den ungesagten Worten zu atmen, die mir die Luft abschnürten.

Die Stille im Raum war so laut, dass die Wände das Echo meines Schweigens widerhallten. Meine Finger krallten sich in die Bettdecke, während ich ihrem Blick auswich. Ich war nicht in der Lage dazu, ihr die Antwort auf die Frage zu geben. Stattdessen schloss ich die Augen. Ich wollte nicht hier sein und mich dieser Situation stellen, die mir die Luft zum Atmen raubte.

Deshalb machte ich mich klein, zog die Decke bis zu meinem Kinn und drehte meinen Kopf weg von meiner Schwester. Tapfer versuchte ich die Tränen zurückzuhalten, die sich hinter meinen Augen zu einem Stausee angesammelt hatten.

,,Sol, bitte'', flüsterte Hailee, während sie zaghaft ihre schlanken Finger unter die Bettdecke schob und meine Hand nahm. Ihre Stimme, die sonst immer so kräftig war, dass man glaubte, nichts könnte sie jemals aus der Fassung bringen, war so dünn und zerbrechlich, dass ich nicht verhindern konnte, wie mir dabei eine Träne entfloh.

Plötzlich trat Dr. Forster in mein Sichtfeld. Zu meinem Erstaunen ging sie vor mir in die Hocke, sodass wir uns nun fast auf Augenhöhe befanden. Ganz kurz bildete ich mir ein, eine Spur Mitgefühl in ihren toten Augen erkannt zu haben.

,,Möchten Sie, dass ich es Ihrer Schwester sage?''

Mach das nicht, Sol, bat mich Amy. Doch ich hatte noch nie auf sie gehört.

Es war feige von mir und doch nickte ich. Der Knoten in meiner Brust zog sich immer enger zusammen.

Schnell presste ich meine zitternden Lippen aufeinander, während die Tränen nun ungehindert meine Wangen hinabflossen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gehasst.

Ich war mir der Aufmerksamkeit aller Personen im Raum bewusst. Doch niemand wagte es, mir ins Gesicht zu sagen, was für ein schrecklicher Mensch ich war.

Dr. Forster erhob sich langsam und trat wieder ans Ende meines Bettes. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie ein schwarzer Schatten geräuschlos an ihr vorbeiging. Mein verschwommener Blick fiel auf Atlas, den einzigen Menschen, der mich nicht für meine Feigheit verurteilte.

Er nahm meine Hand in seine und half mir die nächsten Augenblicke durchzustehen.

,,Sol ist vor ungefähr sechs Wochen zu mir ins Krankenhaus gekommen, weil sie unter einer starken Übelkeit und häufigem Erbrechen litt. Wir haben ihr Blut abgenommen und aufgrund ihrer starken Kopfschmerzen und Migräneanfälle ein CT veranlasst. Dabei haben wir einen Tumor entdeckt. Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, doch ihre Schwester hat ein Glioblastom im Endstadium.''

Nüchtern und präzise.

Ohne jegliche Gefühlsregung in der Stimme ließ sie die Bombe, dessen Zündschnur ich die ganze Zeit in meinen zitternden Händen gehalten hatte, als könnte ich verhindern, dass sie irgendwann explodierte, hochgehen.

Sogar ich zuckte bei ihren Worten zusammen, obwohl die Informationen nicht neu für mich waren. Sie spiegelten nur meine Realität wider.

Die Stille im Raum war wie die Ruhe vor einem Sturm, der kurz danach alles mit sich riss. Ganz langsam drehte ich den Kopf zu meiner Schwester, die noch immer stocksteif an Ort und Stelle stand. Ich wollte sie trösten, ihr die Angst nehmen und sagen, dass es besser werden würde. Doch das konnte ich nicht.

Soulless - Auf ewig verbundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt