Kapitel 24: Atlas

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Als sich eine Hand auf meine Schulter legte, zuckte ich zusammen. Doch das euphorische Gefühl verschwand nicht.

,,Dieser Ort ist so rein, dass die Dunkelheit hier nur wenige Sekunden überleben könnte'', sagte Dante, der keine Schwierigkeiten mit der Helligkeit zu haben schien. Natürlich nicht.

Instinktiv schoss meine rechte Augenbraue nach oben. Dabei unterdrückte ich den Puls, mir mit den Händen schützend über meinen Körper zu fahren.

,,Du weißt schon, dass neunzig Prozent meines Körpers aus purer Dunkelheit erschaffen wurde, oder? Ich bestehe quasi zu einem Großteil aus Athanasios' Schatten.''

Ich unterdrückte den Anflug von Panik, der sich in meinen Venen sammelte.

Kurz hatte ich Angst, dass sich dieser Ort jeden Moment in ein Hölleninferno verwandeln würde. Ich vertraute dem lila Pullover nicht über den Weg. Doch Dante schmunzelte nur. Wahrscheinlich hörte er schon wieder alles mit, was ich dachte.

,,Keine Sorge, Grimreaper. Ich hätte dich nicht hergebracht, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, dass die Dunkelheit nicht das ist, was wirklich in dir steckt.''

Arschloch, murmelte ich in Gedanken, sodass ich sicher war, dass er es gehört hatte.

Dante überging meinen lieb gemeinten Kommentar.

,,Deswegen sind wir heute aber nicht hier. Sondern deshalb.''

Er deutete mit ausgestrecktem Arm an mir vorbei. Ich folgte seiner Bewegung. Das Licht verblasste und ein klares Bild zeichnete sich vor uns ab. Plötzlich waren wir nicht mehr in der Grenzwelt, sondern standen an einem Waldrand. Es musste eine Illusion sein, doch es fühlte sich unglaublich real an. Ich spürte den Wind um mein Gesicht wehen und die Wärme der letzten Sonnenstrahlen des Tages auf meiner Haut. Meine Härchen am Arm stellten sich auf. Wenige Meter vor uns erstreckte sich ein kleiner Weg, der direkt zu einer Klippe führte. Wir waren hoch oben auf einem Berg, der direkt den Blick auf eine Stadt aus hochtürmenden Wolkenkratzern, dicht aneinander stehenden Häusern und Parks freigab.

Am Ende des Weges stand eine dunkle Gestalt, die ins Weite schaute. Der Mann hatte die Hände zu Fäusten geballt. Seine Füße standen nur wenige Zentimeter vor dem Abgrund.

,,Ich weiß, du fragst dich, warum du für Sol, seit dem Augenblick, als du sie das erste Mal gesehen hast, solche starken Gefühle empfunden hast. Dafür gibt es eine Erklärung.''

Er machte eine kurze Pause und atmete hörbar aus. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.

,,Hast du schon einmal etwas von dem Phänomen der Seelenverwandtschaft gehört?''

Bei seiner Frage regte sich etwas tief in mir. Eine Erkenntnis, die schon die ganze Zeit in mir gesteckt hatte, aber dennoch nie an die Oberfläche gedrungen war.

,,Die Menschen geben sich der Illusion hin, es gebe für sie einen passenden Partner. Ein Gegenstück, das sie komplett macht'', sagte ich, ohne groß darüber nachzudenken. Die Worte verließen einfach meinen Mund, ohne dass ich die Macht hatte, sie aufzuhalten.

Dante nickte.

,,Du hast recht. Nur ist es weitaus komplizierter als das. Es ist eine Vorstellung, die über die Jahrhunderte immer weiter romantisiert wurde. Dabei haben die Menschen vergessen, dass wahre Seelenverbindungen selten ein Happy End haben.''

Er verschränkte die Arme vor der Brust und deutete mit einem Kopfnicken auf die Person am Rande der Klippe.

,,Siehst du den Mann dort? Seine Seele ist für alle Ewigkeit an diesem Ort gefangen. Vor vielen hundert Jahren hat er seine Seelenpartnerin verloren. Seitdem ist er immer auf der Suche nach ihr und wartet darauf, dass sie sich wieder finden. Nur werden sie das nicht. Sonst wäre er nicht hier in der Grenzwelt.''

Soulless - Auf ewig verbundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt