Die Beute

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Lavender wachte auf. Und das Erste, das sie bemerkte, war wie laut es war. Noch bevor sie die Augen aufschlagen konnte, die sich irgendwie zugeklebt anfühlten- offenbar hatte man ihr einen Schmerztrank gegeben – wusste sie, dass sie weder in ihrem Bett im Schlafsaal noch im Krankenflügel lag.

Sie lag nicht einmal in einem Bett, so viel konnte sie selbst jetzt erkennen, sondern auf einer Art Matte auf dem Boden. Es war zwar bequem, aber dennoch ungewohnt nach am Boden.

Einige Sekunden lang – Sekunden die ihr später wunderbar erscheinen sollten – wusste sie nicht wo sie war und wieso sie hier war.

Schließlich schlug sie mit etwas Mühe die Augen auf. Zuerst sah sie eine hohe Decke über sich. Eine Decke, sie aussah, als wäre sie gar nicht da, sah sie doch wie eine sternenübersäte Nacht aus. Sie hatte diese Decke schon oft gesehen, sehr oft. Aber nie aus dieser Perspektive.

Sie war in der Großen Halle von Hogwarts.

Sie hörte zwar den Lärm in der Halle, verstand aber kaum ein Wort. Ganz in ihrer Nähe lief jemand an ihr vorbei, doch falls er bemerkte, dass sie schon wach war, schenkte er ihr keine Aufmerksamkeit.

Langsam drehte Lavender den Kopf. Offenbar lag sie auf dem Podium, auf dem sonst immer der Lehrertisch stand. Doch er war fort, genau wie die vier Haustische.

Um sie herum lagen andere auf Matten auf dem Podium, manche stöhnen leise, andere schienen zu schlafen oder ohnmächtig zu sein und einige saßen sogar wieder aufrecht da und unterhielten sich mit einem oder mehrerer, die neben ihnen auf dem Boden saßen.

Lavender hatte keinen Besucher.

Sie warf noch einen Blick auf die Halle, die nun so seltsam leer wirkte, ohne die vier Tische. Obwohl überall Menschen herumliefen, standen oder saßen.

Sie sah einige Leute, die sie kannte, an einer Wand sitzen. Es waren Mitschüler von ihr, an so viel konnte sie sich erinnern.

Auf einer Seite der Halle lagen mehrere Leute auf dem Boden. Sie musste eindeutig Schmerzmittel oder etwas ähnliches bekommen haben, so langsam war sie doch sonst nicht im Denken. Denn erst nach ein paar Sekunden wusste sie, um wen es sich dabei handelte: Tote. Und mit diesem Gedanken kamen die anderen Erinnerungen zurück.

Die DA; Die Carrows; Harry, Ron und Hermine; die Schlacht. Sie hatte gekämpft, was hatte sie gemacht. Gegen wen hatte sie gekämpft. Und wie war sie hier gelandet. Und wo war Parvati. War sie hier auf dem Podium; verletzt wie Lavender aber immerhin am Leben. Saß sie mit den anderen von der DA dort auf dem Boden? Wie gerne wäre Lavender einfach aufgestanden und hätte sich zu ihnen gesetzt, dann wäre es beinahe wie jede Krisensitzung im Raum der Wünsche in den letzten Monaten. Oder war Parvati dort auf der anderen Seite der Halle bei den Toten? Oder suchte sie noch irgendwie anders im Schloss nach ihr.

Es musste gerade eine Kampfpause herrschen. Niemand duellierte sich; niemand gab Anweisungen. Ab und an brachte jemand einen Toten oder Verletzten in die Halle. Und plötzlich bemerkte Lavender, die Stille, die unter all dem Lärm lag. Als würden alle hier oberflächliche, unwichtige Gespräche führen, nur um die Stille nicht ertragen zu müssen. Diese Stille, die nach Angst klang, so wie sie dieses Schuljahr so oft zu hören gewesen war. Oder die Stille des Todes, wie nach Dumbledores Beerdigung Ende letzten Schuljahres.

Und mit dieser Erkenntnis kam auch eine Erinnerung zurück:

Sie hatte auf der Galerie im Treppenhaus gekämpft. Gegen wen wusste sie nicht mehr. Vielleicht hatte sie es nicht erkennen können oder sie hatte es schon vergessen. Etwas hatte sie getroffen. Und erst hatte sie gedacht es sei ein Fluch. Nein, Verdammt; Das kann nicht wahr sein, waren ihre ersten Gedanken. Dann hatte sich dieses Etwas nicht als Fluch sondern als Wesen herausgestellt. Und dann war sie über die Brüstung der Galerie gestürzt, mit diesem Wesen noch immer über ihr. Es war wohl ein Wunder, dass sie den Aufprall überlebt hatte. Doch dieses Etwas hatte sie immer noch nicht zuordnen können. Vielleicht lag es immer noch an dem Schmerzmitteln, die sie bekommen hatte, oder sie hatte in dieser Situation wirklich alle Details einzeln aufgenommen, obwohl es nur einige Sekunden gedauert hatte. Alles was sie danach noch wusste, war, dass dieses Wesen – sie hatte erst nicht erkennen können, ob es ein Mensch oder ein Tier war – über sie hergefallen war. Mit Zähnen und Klauen, die wohl in Wahrheit Fingernägel waren.

Lavender hob eine Hand. Sie wollte ihr Gesicht befühlen, wissen, wie schlimm es wirklich aussah. Doch alles auf das ihre Finger trafen war eine schmierige Paste. Eine Salbe.

Und erst jetzt wurde ihr klar, was sie da angefallen hatte: Fenrir Greyback, der Werwolf. Die erste Panik verfolg, als ihr klar wurde, dass heute nicht Vollmond war. Immerhin etwas. Damit konnte sie leben. Irgendwie. Eines Tages. Sie sollte sich sagen, dass sie immerhin noch lebte, während andere tot in der Halle lagen. Sie würde auch kein Werwolf werden, und mit den Narben die sie davontragen würde, würde sie ebenfalls leben können. Aber sie wusste, dass die Zweifel kommen würden, wenn alles vorbei wäre, würde sie vor Spiegeln stehen und sich ihr altes Ich zurückwünschen. Jetzt kam sie sich rückblickend sehr albern vor. Als würde Aussehen eine Rolle spielen. Es mochte einem einen Vorteil bringen, ja. Aber traute man manchmal nicht Menschen mehr zu, wenn sie aussahen, als hätten sie gekämpft. Hatte man darum nicht Rufus Scrimgeour zum Zaubereiminister gewählt. Lavender erinnerte sich an Moody, ihren Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste in ihrem vierten Jahr, der hatte zum Fürchten ausgesehen, mit nur noch eine halben Nase, dem über und über vernarbten Gesicht, dem Holzbein, das sein Kommen schon auf drei Korridore entfernt ankündigen konnte und seinem magischen Auge. Aber irgendwie hatte das alles auch das Gefühl vermittelt, dass er wirklich wusste, wovon er sprach. Dumm nur, dass Lavender sich nie als Kämpferin gesehen hatte. Sie wusste noch nicht endgültig, was sie nach Hogwarts machen wollte, aber Aurorin war auf jeden Fall nicht dabei gewesen. Vermutlich würde sie in irgendeinem Büro im Ministerium landen und ihre Arbeit zwar ordentlich, aber ohne viel Ehrgeiz oder Freude machen.

Wieder hörte sie Schritte näher kommen. Diesmal blieben sie bei ihr stehen.

„Lavender?", fragte Madame Pomfrey. „Kannst du dich aufsetzen?"

Sie versuchte es. Es ging, wenn auch langsam. Wenn sie sich zu schnell bewegte, wurde ihr schwindelig. Kurz fragte sie sich, woher Madame Pomfrey ihren Namen kannte, sie war doch kaum je im Krankenflügel gewesen.

„Haben Sie Parvati gesehen?", fragte Lavender schnell. Sie wusste nicht, wie viel Zeit Madame Pomfrey hatte, aber das musste sie einfach wissen. „Parvati Patil, Sie wissen schon. Sie war in meinem Jahrgang in Gryffindor, hat eine Zwillingsschwester in Ravenclaw."

„Die Patils habe ich beide schon gesehen. Keine Sorge, ihr geht es gut. Ich kann sie später gerne zu dir schicken. Aber jetzt müssen wir uns erst mal um dich kümmern. Und ich habe nicht viel Zeit."

„Natürlich", sagte Lavender. „Und danke."

„Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?" Offenbar wollte Madame Pomfrey prüfen, wie viel sie ihr erzählen musste.

Lavender nickte. „Ja."

„Also, Fälle wie deiner sind sehr selten, allerdings im letzten Jahr bedauerlicher Weise recht häufig geworden. Ende letzten Jahres hatten wir schon mal so einen Fall."

„Bill Weasley, ich weiß", unterbrach Lavender sie. „Rons ältesten Bruder. Seine Schwester Ginny hat uns davon erzählt."

„Dann weißt du ja, was dich erwartet. Ich fürchte, dein hübsches Gesicht werde ich nicht retten können, aber abgesehen davon und von einer eventuell neuen Vorliebe für blutige Steaks solltest du unbeschadet aus der Sache herauskommen."

Lavender nickte nur.

Madame Pomfrey ging weiter zum nächsten Patienten. Wenige später sah sie Parvati näher kommen.

Lavender war nicht traurig über ihre vergangene Schönheit. Oder froh darüber, dass sie noch so gut davongekommen war und nicht tot oder als Werwolf endete. Sie freute sich nicht einmal darüber, dass Lavender auf sie zukam und sie vorsichtig umarmte. Sie hatte nicht einmal Angst vor der Zukunft oder Angst davor, warum jetzt eigentlich eine Kampfpause war.

Sie wusste, dass all das noch kommen würde. Sie würde weinen. Und vielleicht würde sie sich irgendwann auch freuen können.

Aber im Moment fühlte sich absolut gar nichts. 

Of Smoke and RainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt