Der verbliebene Zwilling

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Für George hatte es nie ein Ich gegeben. Nur ein Wir.
Es hatte auch nie ein Du gegeben. Nur ein ihr.
Es hatte nie ein George Weasley gegeben. Nur ein Fred und George Weasley.
Seit er sich erinnern konnte, hatten sie alles zusammengemacht.
Es würde ihn rückblickend nicht mehr wundern, wenn sie am selben Tag laufen und sprechen gelernt hätten.
Er hatte Fred besser gekannt als irgendjemanden sonst und umgekehrt. Sie hatten immer die Sätze des anderen vervollständig. Hatten gewusst, was der Andere dachte, bevor der überhaupt Zeit hatte es zu denken.
Sie hatten sich in Hogwarts einen Namen gemacht. Jeder kannte die Weasleyzwillinge. Und von heute an, würde man auch daran denken, dass einer von ihnen in dieser Schlacht sein Leben gegeben hatte.
Man hatte ihnen immer nachgesagt, dass sie in jeder Situation einen Witz machen konnten, egal wie schwer es auch sein möchte. Selbst als er sein Ohr verloren hatte, hatten er und Fred und Witze gerissen. Doch zum ersten Mal in seinem Leben konnte George nicht einmal daran denken zu lachen. Nicht ohne dass es schmerzte. Denn Lachen würde ihn an seinen Bruder erinnern. Jedes Lachen, das er von nun an hören würde, würde ihn an Fred erinnern.
Er konnte sich nicht einmal mehr genau an ihren letzten gemeinsamen Witz erinnern. Es musste vor Beginn der Schlacht gewesen sein. Es war nichts Besonderes gewesen. Sie hatten mit Sicherheit schon bessere Witze gehabt. Und niemand von ihnen hatte daran gedacht, dass es vielleicht das letzte Mal sein könnte, dass sie zusammen einen Witz rissen.
George erinnerte sich noch an ihren- nein seinen- ersten Schultag in Hogwarts. Genau in dieser Halle. Fred war als Erster dran gewesen den Hut aufzusetzen. Und als er nach Gryffindor kam, war für George klar gewesen, dass er auch dort hin gehen würde, bevor der Hut auch nur in seine Nähe kam.
Manchmal hatten sich einen Spaß daraus gemacht und darüber philosophiert, ob sie nicht eigentlich eine Person in zwei verschiedenen Körpern waren.
Offenbar waren sie das nicht.
Denn keine Person konnte noch leben, wenn eine Hälfte seines Körpers fehlte. Doch George lebte noch, während Fred tot vor ihm lag.
Sie hatten nie darüber geredet, selbst im letzten Jahr nicht, als beide schon Mitglieder im Orden waren. Doch stillschweigend waren sie wohl beide davon ausgegangen, dass sie auch zusammensterben würden. So wie zusammen geboren worden waren, zusammengelebt hatten und einfach alles zusammengetan hatten. Wie konnten sie da nicht auch zusammen sterben? Er wusste, dass viele Zauberer über einhundert Jahre alt wurden. Fred würde nie einen Tag älter werden als er heute gewesen war. Zwanzig Jahre, einen Monat und einen Tag. Doch George würde vielleicht noch 80 Jahre oder mehr leben. Dann hätte er weniger als ein Fünftel seines Lebens mit Fred verbracht.
Doch dieser Gedanke er schien ihm gerade unmöglich. Es war schon fast ein Wunder, dass er auch nur eine Sekunde älter wurde als sein Bruder.
George konnte sich nicht mehr an die letzten zehn Minuten erinnern. Er wusste noch, wie Voldemorts Stimme über das Schloss und das Gelände gehallt war mit der Ankündigung, dass die Schlacht pausiert werde. Dann war er dem Strom der anderen Kämpfer in die Große Halle gefolgt. Da war noch alles in Ordnung gewesen. Ihm war bewusst gewesen, dass es Tote auf ihrer Seite gegeben hatte. Und dass er sie vermutlich sogar gekannt hatte. Er wünschte sich, er könnte die Zeit zu diesem Moment zurückdrehen, in dem seine Welt noch in Ordnung gewesen war. Auch wenn er nur noch gedacht hatte, dass sie in Ordnung war. Als er noch dachte, Fred würde gleich hinter der nächsten Ecke auf ihn warten und ihm für die guten Kämpfe auf die Schulter klopfen und einen Witz reißen.
Als er die Halle betreten hatte und niemand aus seiner Familie, weder seine Eltern noch einer seiner Geschwister und vor allem nicht Fred auf ihn gewartet hatte, war er ein wenig nervös geworden. Und als er dann auf der Suche nach ihnen durch die Halle gegangen war, waren ihm Blicke gefolgt. Einige hatten ihren Nachbarn etwas zugeraunt. Zumindest die, die nicht über der Leiche eines Freundes getrauert hatten.
Sein erster Gedanke, als er Freds Leiche schließlich gesehen hatte, war wieso er dann noch lebte. Wie es sein konnte, dass man sie beide getrennt hatte.
George hatte nichts gesagt. Keinen einzigen Laut von sich gegeben. Er war einfach neben seinem Bruder auf die Knie gesunken und hatte sich seitdem nicht mehr gerührt. Er wusste, dass er es würde tun müssen. Aufstehen. Weitermachen. Bald sogar. Die Schlacht würde weitergehen. Vielleicht würden sie gewinnen, dann würde er seinen Zwilling endgültig verabschieden müssen. Wenn sie verlieren würden, würde man Fred dann beerdigen. Und wenn ja, wer würde es tun.
Vielleicht würde George aber auch im nächsten Teil der Schlacht sterben. Schließlich kamen selbst Zwillinge ja nicht in derselben Minute zur Welt. Er hätte es niemals zugegeben, doch er hätte nun nicht mehr so viel dagegen für diese Sache zu sterben. Das schien einfacher zu sein, als sich ein Leben ohne Fred auch nur vorzustellen.
Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, wo er nach der Schlacht hingehen würde. Überall, wo er bisher gewohnt hatte, hatte er sich mit Fred ein Zimmer geteilt. Und in einem Zimmer aufzuwachen, in dem das andere Bett für immer verwaist war, wollte George sich nicht einmal vorstellen.
George wusste, dass Fred gewollt hätte, dass er Weasleys Zauberhafte Zauberscherze weiterführte. Ihr Lebenswerk. Fred war so jung gewesen und hatte doch schon so viel erreicht. Jedes verkaufte und noch unverkaufte Stück in ihrem Laden trug seine Handschrift. So wie sie die seines Zwillingsbruders trug. Der nun für den Rest seines Lebens weiter lachen musste, weil er dafür immer gelebt hatte, auch wenn ihm innerlich immer nach Weinen zumute sein würde.
Auf Freds Gesicht war noch das Lachen über seinen letzten Witz zu sehen. Einen Witz, der nie vollständig erzählt werden würde. Es war das letzte Lachen seines Bruders das George je sehen würde.
Ein Teil von ihm freute sich darüber, dass Fred so gestorben war, wie er gelebt hatte. Im Augenblick seines Todes hatte er gelacht und einen Witz erzählt. Es gab sicher schlimmere Augenblicke zu sterben.
Von den anderen Leichen in der Halle, die George lieber gar nicht so genau ansah, lächelte niemand oder lachte gar.
Fred war der Einzige in diesem Schloss der lachte. Selbst im Tod. Und zum ersten Mal in seinem Leben konnte George nicht mitlachen.

Of Smoke and RainWhere stories live. Discover now