ᴋᴀᴘɪᴛᴇʟ 1 - ᴅɪᴇ ᴘʀüꜰᴜɴɢ

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3106 n. Chr. - Aergia System

Jung und Alt tummelte sich auf dem Festivalplatz. Aus allen fünf bewohnbaren Planeten, die das Aergia-System umfasste, hatten sich jene Rekruten zusammengefunden, die an diesem Tag ihre letzte, wichtigste Prüfung ablegten. Das galt bei weitem nicht nur für diese Ecke der Milchstraße. In der ganzen Galaxie wurden Rekruten zur genau gleichen Zeit geprüft und auf mindestens genauso vielen Bildschirmen beobachteten Schaulustige das Geschehen. Die Prüfung war ein großes Ereignis. Jeder wusste um jene berüchtigten, unvorhersehbaren Leistungsnachweise. Niemand vermochte zu sagen, was als Nächstes passierte.

Wie schon ihre Vorgänger und deren Vorgänger, standen die Rekruten auf der Bühne am Kopf des rechteckigen Platzes. Seit fünfhundert Jahren hatte sich nichts an diesem Brauch geändert. Obwohl außerhalb, in einer eigens dafür erbauten Arena, geprüft wurde, bestand die Öffentlichkeit auf das Vorgeplänkel und die Zeremonie am Festivalplatz. Eine Rede nach der Anderen, das Blitzgewitter der Reporter und die Jubelrufe der Menge wirkten auf die Rekruten ein.

Anara Maxima war eine von ihnen. Sie band sich die dunkelbraunen Haare in einen Zopf und steckte verbleibende Strähnen mit Spangen fest. Kein Härchen würde ihr heute in die Quere kommen, das schwor sie sich. Sie hob das Kinn und verschränkte die Arme, eng an sich gepresst, hinter dem Rücken. Die Aufregung trieb ein Kribbeln bis in ihre Fingerspitzen. Sie hatte sich die Aufzeichnungen sämtlicher Prüfungen der letzten Jahre angeschaut, sie studiert und ein Muster herausgearbeitet. Es gab keine Möglichkeit für sie, nicht oder mit einer schlechten Note zu bestehen. 

In ungefähr fünfundneunzig Prozent der Prüfungen ging es weniger um das Können, sondern mehr um moralische Fragen und darum, wie sehr die angehenden Soldaten den Kodex der Akademie verinnerlicht hatten. Anara besaß beides: ausgezeichnete Kampfkraft und das Wissen über jeden einzelnen Absatz im Regelwerk. Selbst in diesem Moment sprach sie den Kodex gedanklich vor sich her.

Regel 1 Absatz a: Das Wohl der Allgemeinheit steht über dem des Individuums 

Ihre Pläne waren groß, größer als die Provinz, die das Aergia-System darstellte. Bisher hatte sie sich nur selten das Tagträumen über ihre Zukunft gegönnt. Nun jedoch, als sie mit all den anderen Rekruten auf der Bühne stand und Millionen von Menschen ihre Blicke auf sie richteten, schaffte sie es nicht, an etwas anderes, als die Hauptstadt zu denken: Rom, politisches und wirtschaftliches Zentrum der Galaxie, die Wiege der Menschheit. Wieviel mehr Menschen würden dort zu ihr aufsehen? Sie musste dorthin. Sie musste nach Rom! Und nur noch diese Prüfung trennte sie davon.

Über eine Drohne tönte die Durchsage, dass nun ein Gruppenbild anstand. Die Rekruten rückten näher zusammen. Es stank nach Schweiß und den seltsam sterilen Uniformen, die eigens für die Prüfung angefertigt worden waren und eigentlich geruchsneutral sein sollten. Stattdessen erinnerte ihr Gestank Anara an verbranntes Plastik. Die junge Frau unterdrückte den Würgereiz.
Auf den Bildschirmen, befestigt an den umliegenden Gebäuden und der riesigen, gläsernen Kuppel über ihnen, blitzte die Photographie auf. Anara sah sich, inmitten eines Meeres grinsender Volltrottel. 

„Wie wollt ihr den Menschen helfen, wenn ihr euren Beruf nicht ernst nehmt? Bin ich die Einzige, die das alles hier wirklich will?" Niemand hörte sie sprechen. 

Sie verließen die Plattform und wurden am Fuße der Treppe von Reportern empfangen. Um Anara scharrten sich die meisten. Als Jahrgangsbeste war sie bereits eine Berühmtheit. Das goldene Kind, wie man sie nannte, beantwortete alle Fragen kurz und knapp. Anara hatte sich nicht nur auf die Prüfungen, sondern auch hierauf vorbereitet. Die vielen Aufzeichnungen und Interviews der vergangenen Jahre liefen in ihrem Kopf, wie ein Blockbuster in einem Kino. Und Anara saß in der ersten Reihe, um die Worte der Gewinner letzter Jahre nachzusprechen. 

Als die Geduld sie verließ und Anara keine Antworten mehr parat hatte, zuckte sie mit den Schultern und verschwand in der Menge. Sie schlüpfte durch die Reihen und bat einen der Fahrer, sie  zum Eingang der Arena zu bringen. Ihre Startnummer war die Drei, sie würde als eine der Ersten in den Ring steigen. 

Sie kamen an. Das Auto hielt. Anara stieg aus und schaut an dem Bauwerk vor sich hinauf. Es hatte die Form eines Kolosseums mit hunderten Eingängen und so hoch, dass es am Himmel selbst zu kratzen schien. Anara legte den Kopf in den Nacken, um zu erkennen, wo der rote Stein des Monuments auf das Azurblau des Himmels traf. Ob es sich um eine Prüfung wie vor dreiundzwanzig Jahren handelte, in der die Teilnehmer gegeneinander kämpften? Die Arena aus diesem Jahr sah beinahe identisch aus. Anara hatte ihre Mitschüler in den letzten Monaten immer wieder beobachtet. Keiner von ihnen stellte eine wirkliche Bedrohung dar. Aber worin befand sich dann die Moral, die ebenfalls geprüft wurde? In der Prüfung vor dreiundzwanzig Jahren hatte es, äußerst ungewöhnlich, keine gegeben. Es ging lediglich ums Können. 

Nach und nach trafen die anderen Rekruten ein. Noch eine Stunde bis zum Beginn der Prüfung und Anara bemerkte allmählich, dass sie ihre Mitschüler wohl unterschätzt hatte. Das dämliche Grinsen war aus ihren Gesichtern gewaschen. An dessen Stelle stand derselbe Ausdruck, den auch sie zur Schau trug. Die jungen Rekruten analysierten den Austragungsort, ihre Mitstreiter, mögliche Gegner oder Verbündete. Wenige sprachen und wenn, dann nur wohl überlegt und mit gedämpfter Stimmer. Die Ernsthaftigkeit der Situation machte sich bemerkbar, sie überragte die Anwesenden, wie das Kolosseum die flache Ebenenlandschaft des Planeten. 

Dies würde der Anfang sein, versprach Anara sich, der Anfang von etwas Großem. 

Neben den Rekruten trafen nun auch die Lehrenden und das Publikum ein. Letztere strömten durch die vielen Eingänge in das Innere des Kolosseums. Während sie ihre Plätze einnahmen, führten die Lehrer die Rekruten in unterirdische Umkleideräume. Jeder besaß einen Spint mit dem Namen in silbernen Lettern darauf. Bei den tausenden Prüflingen brauchte Anara eine halbe Stunde, ihren zu finden. Sie öffnete ihn und fand eine weitere Uniform vor. Sie hinterfragte es genauso wenig wie ihre Mitstreiter, denn selbst das Nachdenken kostete sie zu viel Energie. Energie, die sie für die Herausforderung bitter nötig hatte. 

Eine junge Frau trat ein. Das Hologramm einer K.I. Sie trug ein langes, weißes Kleid auf weißer Haut, weiße Haare zu einer Hochsteckfrisur gebunden, weiße Lippen, weiße Wimpern und hellgraue Augen. Anara hatte gehört, dass der Senat diese Art der Erscheinung vor hunderten Jahren festgelegt hatte, um KIs äußerlich von Menschen unterscheidbar zu halten. Ob dies stimmte, wusste sie nicht.

Die K.I stellte sich als die Aufseherin des Kolosseums vor und rief die ersten Nummern auf. Eins und zwei waren zwei zierliche Mädchen. Sie wechselten zögerliche Blicke und folgten der Dame aus dem Raum heraus. Ungefähr eine halbe Stunde später erschien die Aufseherin erneut. Anara stand bereits. Sie wusste, dass nun ihre Nummer genannt werden würde. Und tatsächlich. 

„Nummer drei", verkündete die farblose Erscheinung, „Und Nummer vier. Folgen."
Nummer vier war ein Mann von großer Gestalt. Anara kannte ihn aus ihrer Parallelklasse. Im Kampf war er langsam und leicht zu überwältigen, doch sie würde sich vor seiner Stärke in acht nehmen müssen. Ansonsten ... Sie räusperte sich. Es gab keinen Grund, an ein ansonsten zu denken. 

Die K.I führte die zwei Rekruten aus dem Raum, zurück an das Tageslicht. Und tatsächlich, es handelte sich um ein riesiges Kolosseum mit Reihen von Zuschauern, einer Tribüne, auf der die Prüfer saßen und einem großen Kampfplatz in der Mitte. Die Massen jubelten, als Anara aus dem Dunkel des Bogenganges trat. Der Sand dämpfte ihre Schritte und sie sah nicht, wie Soldaten der Akademie die Nummer Vier zurückhielten. Die Stimme der K.I hallte durch den Himmel und leitete sie an, zur Mitte des Platzes zu gehen. Dort angekommen reckte Anara den Kopf und kniff die Augen zusammen, um die Prüfer zu erkennen. Sie kannte jeden von ihnen.

„Anara Maxima", verkündete die Stimme der K.I, „Möge die Prüfung beginnen."

OlymposWhere stories live. Discover now