Kapitel 10

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Jamals POV

Als ich die Kabine verließ, schaltete ich mein Handy mit einem Lächeln wieder ein.
Real hatte gewonnen, ich hatte mein erstes Spiel hier gewonnen.
Und auch wenn ich nicht direkt an dem Tor beteiligt gewesen war, hatte ich dennoch zufriedenstellend gespielt.
Als ich jedoch auf das Display meines Handys schaute, auf dem langsam eine Nachricht nach der anderen eintraf, fror mein Lächeln ein.

Die nächsten Stunden erlebte ich wie in Trance.
Irgendwie hatte ich auf Julis 7 verpasste Anrufe reagiert, indem ich sie zurückrufte. Meine Frau ging jedoch nicht an ihr Telefon und die Panik machte sich in mir breit.
Hätte sie mich nur beglückwünschen wollen, hätte sie nicht so oft angerufen. Und vor allem nicht sofort nach Ende des Spiels.
Und vor allem wären da nicht die anderen 23 Anrufe unserer Familie gewesen.
Als nächstes beantwortete ich mit zittrigen Händen die zig Anrufe meiner Mutter, die jedoch ebenfalls nicht an ihr Handy ging.
Nachdem ich auch meine Schwiegermutter nicht erreichte, rief ich Lilli an, von der ich ebenfalls 3 Anrufe verpasst hatte.
Sie ging tatsächlich direkt nach dem zweiten Mal klingeln an ihr Handy.
An ihre genauen Worte erinnerte ich mich nicht mehr, aber irgendwas in mir sorgte dafür, dass ich mich in mein Auto setzte, den Wagen startete und zum Flughafen fuhr.
Auch wie ich schlussendlich in dem Privatjet gelandet war, wusste ich nicht mehr.
Fakt war, dass ich irgendwann in dem Münchner Krankenhaus ankam, in dem man mich in irgendwelche Flure sandte.
Einer weißer als der andere.

"Wo ist sie?", meine Stimme brach in dem Satz fast zusammen, obwohl ich eh nur geflüstert hatte. Sie holte mich für kurze Zeit aus meiner Wattewelt.
Um die 10 Stimmen gleichzeitig versuchten mich zu beruhigen, doch alles was ich hörte war "Wehen, Ausfluss, sofort losgefahren, Kreißsaal".

Erst der Arzt, der keine Ahnung wie viel später aus einer der scheußlichen Türen trat, generell war alles an diesem Krankenhaus scheußlich, zog mich wieder zurück in die Realität.
Zumindest für einen kurzen Augenblick.
Denn die Worte, die er aussprach, fegten eine Leere in meinen Kopf, dass mir schlecht wurde. Um die 10 Mal hallten seine Worte in meinem Schädel wieder, bis ich verstand, was er mir gerade gesagt hatte.
Ich sah in die fassungslosen, entsetzten und ängstlichen Gesichter meiner Familie.
Alle waren in einer Art Schockstarre. "Herr Musiala, ich weiß, das ist eine grausame und unglaublich schwere Entscheidung, aber Sie haben nicht viel Zeit. Ich brauche eine Antwort! Wen sollen wir retten?"
Als erstes gelangte meiner Mutter die Sprache zurück, die mich entsetzt ansah: "Das ist doch überhaupt keine Frage Jamal!"
Ich konnte nichts sagen, nichts antworten. Ich konnte gar nichts.
Mein Kopf war leer.

Es sammelte sich Speichel in meinem Mund, doch gleichzeitig war er staubtrocken.
"Jamal! Jetzt rette verdammt nochmal deine Frau!", meine Mutter sah mich panisch-entsetzt an, doch mein Gehirn war weiterhin leer.
Ich würde ihn verlieren.
Oder sie.
Nein, das war keine Option.
Ich könnte mich niemals gegen sie entscheiden.
Doch was würde sie wollen?
Julis perfektes Gesicht tauchte vor meinem Inneren auf.
"Ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen Jamal. Das musst du entscheiden, keine Illusion in deinem Kopf. Doch du weißt, ich hätte immer dich gewählt, niemand anderen. ", sie lächelte mich zaghaft an.
Ich verlor meinen Sohn.
Ich verlor mein Kind.
"JAMAL VERDAMMT NOCHMAL. Mach deinen verdammten Mund auf und rette Juli! JETZT!", meine Mutter schrie mittlerweile und ich zuckte zusammen. Doch nicht nur ich. Alle, selbst der Doktor, zuckten zusammen.
"Herr Musiala, es tut mir leid, aber ich brauche wirklich eine Antwort!"
"JAMAL MUSIALA! JETZT ÖFFNE DEINEN MUND UND GIB DEM DOKTOR ENDLICH DIE RICHTIGE ANTWORT!", ich konnte trotzdem nicht antworten.
Stattdessen starrte ich auf die Wand gegenüber mir.
Meine rechte Hand fing an zu zittern.
Ich öffnete meinen Mund, versuchte Julis Namen zu nennen, doch es kam nichts hervor.
Ich schloss ihn wieder.

Ich wusste nicht, wann ich schlussendlich das Wort hervorbekommen hatte, wenn ich es überhaupt gesagt hatte. Vielleicht hatte auch einfach meine Mutter dem Doktor solche Angst gemacht, dass er auf sie gehört hatte.
Ich wusste nur noch, dass ich stundenlang auf die gleiche, kleine Schramme mir gegenüber auf der sonst perfekten, weißen Wand starrte.
Nicht nur meine Hand zitterte, sondern auch mein rechtes Bein. Lilli hatte das anscheinend bemerkt, denn irgendwann war ihre zarte Hand in meiner.
Sie drückte sie leicht. Sie war warm und ohne jegliche Regung dankte ich ihr.
Sie war genauso schockgefroren wie ich.
Irgendwann rannte eine einzelne Träne über meine Wange. Ich wischte sie nicht ab. Dafür fehlte mir die Kraft, die Realität, der Wille.
Ich war nach wie vor leer.

Als der Arzt erneut in den Flur trat und uns bedauernd zunickte, fühlte ich das erste Mal wieder irgendetwas. Doch statt zu fragen, ob ich zu Juli könne, verließ ich den Flur ohne jegliche Worte und lief nach draußen.
Es war warm und das machte mich - wütend.
Wie konnte draußen die Sonne scheinen, wenn eben verdammt nochmal mein Kind gestorben war?
Wenn ich mich eben zwischen meiner Frau und meinem Kind entscheiden musste? Was hatte ich getan, um das zu verdienen?!

Eine Hand legte sich auf meine Schulter, meine kleine Schwester trat neben mich.
"Jamal, komm rein. Bitte. Juli braucht dich jetzt.", Lillis Stimme zitterte, aber ihre Message war klar.
"Ich... Ich kann nicht."
Eine Weile stand Lilli noch neben mir, aber dann nickte sie einmal schluckend und wandte sich ab.

"Es tut mir soooo leid, Jamal.", Mathea tauchte als nächstes auf und umarmte mich.
Ich spürte, wie sie mich an sie zog, doch gleichzeitig spürte ich auch einfach gar nichts.
Keine Herzlichkeit, keine Wärme, schon gar keine Freude.
Einfach - nichts.

Und damit herzlich willkommen zur Lesenacht :)
Hab mir mit dieser Entscheidung mein eigenes Herz gebrochen, aber ohne Drama wäre es nunmal langweilig...

Endless love ? - Jamal MusialaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt