Der Gedanke, dass dieses Mädchen mich bis zu ihrem Todestag niemals richtig wahrnehmen konnte, versetzte mir einen weiteren Stich. Etwas krampfte sich in meiner Brusthöhle zusammen und ich legte zischend meine Hand darauf.

,,Horus, was passiert mit mir?''

Sie ist anders, hauchte der Vogel.

,,Es ist nicht möglich, dass ich derart auf einen Menschen reagiere.''

Horus schwieg. Auch er schien keine Antwort auf meine Frage zu haben.

Ich stieß mich energisch von der Wand ab. Wut durchströmte mich, während ich an den Augenblick dachte, als sie in meine Richtung gestarrt hatte. Ich hatte mir all das nur eingebildet. Sie konnte mich nicht gesehen haben. Dieser Moment zwischen uns war nicht real. Sie war nicht in der Lage, mich auf diese Weise wahrzunehmen. Kein Mensch konnte das.

Meine wahre Gestalt war für den Rest der Welt verborgen. Nur bereits Verstorbene konnten mich sehen. Aber auch nur das, was ich sie sehen ließ. Ich war nie ich selbst, wenn ich vor eine totgeweihte Seele trat.

Und doch hätte ich schwören können, dass dieses Mädchen kurz innegehalten hatte, als sie in meine Richtung geschaut hatte. Ich hatte durch Horus Auge sehen können, wie sie stocksteif stehen geblieben war und mich mit offenem Mund betrachtet hatte. Sie hatte süß dabei ausgesehen.

Augenblicklich verpuffte meine Wut.

Süß?, fragte mich der Rabe und legte dabei argwöhnisch seinen Kopf schief.

,,Das hast du falsch verstanden'', erwiderte ich in Gedanken mit monotoner Stimme.

Ich glaube, ich habe dich sehr gut verstanden, zwitscherte der Vogel.

,,Halt die Klappe'', gab ich mürrisch zurück und wischte ihn von meiner Schulter.

Ein beklemmendes Gefühl befiel mich, von dem ich mir sicher war, dass es nicht von Horus stammte. Wieder glitten meine Gedanken zu dem Mädchen mit den Rehaugen. Sie hatte mich direkt angeschaut und sich entschuldigt. Diese Worte waren sicher an mich gerichtet gewesen und doch konnte es nicht sein.

Vielleicht kann sie dich wahrnehmen, weil sie eine Todgeweihte ist?, warf Horus ein, während er sich auf meiner anderen Schulter niederließ.

Der Gedanke war mir auch schon gekommen, doch es war unüblich. In meiner Zeit als Schatten war mir so etwas noch nie passiert.

Noch immer in Gedanken hielt ich vor der Tür meines nächsten Ziels an.

,,Lilie Baker, sechs Jahre alt. Gestorben an Leukämie, vermittelte mir Horus, während er mir gleichzeitig eine Flutwelle an Gefühlen sandte. Gefühle, die ich in solchen Momenten nicht spüren durfte. Doch Horus war schon immer ein sensibles Wesen. Es war keine leichte Aufgabe für ihn, meine Seele in sich zu kontrollieren und meine Gefühle zu steuern. Vielleicht war Horus selbst zu emphatisch für diese Aufgabe. Wenn ich die Seele eines Kindes holen musste, vermittelte er mir immer Gefühle der Traurigkeit. So auch jetzt.

Ein schmerzhaftes Ziehen erfasste meinen Körper und hinterließ ein taubes Gefühl. Doch ich musste es tun. Es war meine Aufgabe als Seelenfänger, sie in die Zwischenwelt zu bringen, damit Athanasios über ihr weiteres Schicksal entscheiden konnte.

Kurz bevor ich die Türklinke herunterdrückte, tauchte wieder das Bild von dem Mädchen vor meinem Inneren Auge auf. Noch bevor ich es selbst realisierte, hatte ich einen Entschluss gefasst.

,,Horus, deine Pflicht ist an dieser Stelle erfüllt. Behalte das Mädchen für mich im Auge.''

Die Entscheidung war gefallen. Ich konnte sie nicht einfach gehen lassen. Nicht, bevor ich nicht herausgefunden hatte, was da gerade mit mir passiert war. Und ich hatte das seltsame Gefühl, dass das Mädchen mit den runden Rehaugen die Antwort auf all meine Fragen hatte.

Soulless - Auf ewig verbundenWhere stories live. Discover now