Prolog

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Mit langsamen, bedachten Schritten ging ich durch den kleinen Park, der mich direkt zu meinem Ziel führte.

Es ist noch Zeit, vermittelte mir Horus in Gedanken, während er ruhig auf meiner Schulter saß. Das Sonnenlicht spiegelte sich im schwarzen, glänzenden Gefieder des Raben.

Die Menschen um mich herum waren nicht in der Lage, mich zu sehen. Sie nahmen zwar meine Präsenz wahr, indem sie einen eisigen Windhauch spürten oder eine Gänsehaut bekamen, wenn ich dicht an ihnen vorbeiging, aber sie konnten meine Gestalt nicht erkennen.

Vielleicht glaubten die Menschen deshalb an Geister.

Immerhin, sie waren nah dran, flüsterte Horus und legte seinen Kopf schief. Ein Schmunzeln umspielte meine Mundwinkel.

Die Menschen in der Realwelt wussten nicht, dass nicht nur diese eine Ebene existierte. Erst, wenn sie starben, würden sie herausfinden, dass die Welt, von der sie dachten, sie sei die einzig Reale, aus zwei weiteren Schichten bestand.

Es war ein Irrtum der Menschen, zu glauben, die Erde hätte sich selbst erschaffen. Doch das würde jeder von ihnen spätestens an seinem Todestag herausfinden.

Und jedes Mal war ich es, der ihnen diese Illusion raubte.

Es ist der ältere Mann, krächzte Horus, während er die Flügel ausbreitete und mit einem lauten Kreischen zu der Bank flog, auf der die nächste Seele auf mich wartete. Bereit, geholt zu werden.

Das Kreischen des Vogels war ohrenbetäubend. Er war nicht umsonst der Vorbote des Todes. Elegant ließ er sich auf dem oberen Rand der Rückenlehne, direkt neben dem älteren Mann, nieder und wartete, dass ich zu ihm kommen würde.

So wie jeden Tag.

Ich verließ den Park und schritt auf eine der Bänke zu, die vor dem St. Louis Hospital stand. Mein schwarzer Mantel bäumte sich aufgrund des stark einsetzenden Windes auf und verlieh mir einen dramatischen Auftritt. Wie sehr ich es hasste, wenn die Realwelt rebellierte. Als könnte ein kleiner Windstoß mich davon abhalten, meine Aufgabe zu erfüllen.

Der Blick des Mannes war leer, als ich vor ihm zum Stehen kam. So sahen die Menschen immer aus, wenn ihre Zeit gekommen war.

,,Mr. Jones. Ihre Zeit ist abgelaufen'', donnerte meine tiefe Stimme auf ihn ein, sodass der ältere Mann ängstlich zusammenzuckte.

,,Bin ich schon tot?'' Seine Stimme zitterte.

Immer wieder waren es die gleichen Fragen.

Ich nickte und reichte ihm meine Hand. ,,Ich werde Sie über die Schwelle in die Zwischenwelt begleiten. Dort wird entschieden, was mit ihrer Seele geschehen wird.''

Es war mein Standardsatz. Über die Jahre hatte ich ihn perfektioniert.

In den meisten Fällen flehten die Menschen mich an, ihnen mehr Zeit zu geben. Sie noch ein wenig länger zu verschonen. Doch das konnte ich nicht.

Der ältere Mann blieb stumm, während er seine eiskalte Hand in meine legte. Mit dieser Berührung löste sich seine Seele aus seiner menschlichen Hülle. Ein dichter Nebel formte sich um uns herum, ehe wir eins mit ihm wurden und begannen, uns Stück für Stück aufzulösen.

Wie jedes Mal, wenn ich die Zwischenwelt betrat, verschwand der dichte Rauch. Zurück blieb ein weißes Nichts. ,,Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Mr. Jones.''

Mit diesen Worten schlängelte sich der Nebel erneut um meinen Körper und katapultierte mich zurück in die Realwelt.

Ohne zu wissen, dass sich nur wenige Minuten später mein Leben komplett verändern würde.

Soulless - Auf ewig verbundenWhere stories live. Discover now