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Aegnor und Andreth

Betrübt blickte die Frau auf den verschneiten Pfad vor sich. Manche Äste der Bäume, die den schmalen Weg säumten, bogen sich unter der Last des in der Nacht neu gefallenen Schnees zur Schneedecke hinab.

Den großen, schweren Korb erneut schulternd, stapfte sie voran. Seit dem späten Sonnenaufgang war sie unterwegs zum Heerlager Finrods, das nördlich der Festung ihrer Familie lag. Ihr Bruder Bregor vom Hause Beors hatte ihr Geleit mitgeben wollen, doch die Frau hatte abgelehnt und ihn überzeugt, dass der Weg zum Heerlager nur ein halber Tagesmarsch durch gesichertes Gebiet seiner Krieger und den Elben war, die in den Wäldern jagten. Ihr Bruder hatte zuerst gezögert, aber dann eingewilligt. Ihr Vater hätte es ihr wohl nie erlaubt, allein im Winter durch den Wald zu gehen, aber ihr Bruder wusste um ihre Selbstständigkeit und Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen.

Sie stoppte wieder, um kurz zu verschnaufen. Mit der Hand hielt sie sich die Seite. Es wurde immer anstrengender im tiefen Schnee zügigen Schrittes vorwärtszugehen. Sie war bei weitem nicht mehr so jung, wie ihr leicht bedauernd auffiel. Sie stapfte weiter. Zum Glück hatte sie unter ihren Röcken, die sie am Gürtel gerafft hatte, um das Gehen im Schnee zu erleichtern, dicke Wollhosen angezogen.

Nach einer Weile lichtete sich der Wald und vor ihr breitete sich eine weisse Ebene aus. In der Ferne hob sich blass gegen den blauen Himmel ein Gebirge ab.

Leise hörte sie Rufe und Klirren von Eisen aus dem entfernten Heerlager. Es musste nicht mehr weit sein und sie beschleunigte ihre Schritte wieder. Da hörte sie hinter sich lautes Schnaufen grosser Tiere. Sie drehte sich um. Obschon die Frau Elben um einiges mehr zu Gesicht bekam, als es andere Menschen taten, staunte sie immer wieder über deren unsterbliche Schönheit. Kein Wesen kam ihrer Eleganz so nah.

Die kleine Elbenschar ritt auf weissen Rössern, deren Zäume und Sättel silbern im Licht glitzerten. Auch die Reiter selbst strahlten in silbernen Rüstungen, ihre Helme hoch und spitz. Für einen Moment war sie geblendet, obwohl ihre Augen bereits an das helle Glitzern des Schnees gewöhnt waren. Sie blinzelte mit Tränen in den Augen.

Als sie wieder klar blicken konnte, waren die Pferde bereits zu einem Halt gekommen und die hellen schneeweissen Leiber umringten sie, als wären die bereits gefallenen Flocken wieder zum Leben erwacht. Nur der Dampf, der ihren Nüstern entquoll, sprach von der Wärme unter ihren Fellen. Einer der Elben sprang leichtfüssig von seinem hohen Tier. Er sackte dabei kaum in den tiefen Schnee ein.

«Wir sahen euch schon aus weiter Ferne, alte Saelind», sprach er in einer melodiösen Stimme, «kürzer ist es zu unserem Lager, eure Augen werden es nach wenigen Schritten erblicken können.»

Ein herzliches Lachen entfloh der alten Saelind: «In meinem Fall sind wenige Schritte noch gut gemeint, geehrter Herr Finrod. Meine Augen lassen von Jahr zu Jahr nach.»

Kurz flackerte, sich der Sterblichkeit und Zerbrechlichkeit der Menschen besinnend, Bedauern in Finrods sternklaren Augen auf.

«Bitte, mein Herr», sprach Saelind weiter, «bedauert mein Schicksal nicht. Ich zumindest empfinde es letztendlich als Segen.»

«Dann ist es wohl so,» antwortete Finrod, «entschuldigt meine unbedachten Worte trotzdem. Wir Elben vergessen oft die Sterblichkeit unserer Geschwister, und wir sprechen ungern über etwas, das wir nicht verstehen und das weit über die Grenzen unseres Daseins geht.»

Saelind nickte: «Ich verüble es euch nicht. Wir haben alle unsere Aufgaben hier. Einige sind nach kurzer Zeit fertig, andere enden nie.»

«Weise Worte» sprach der hochgewachsene Noldorfürst und seine ebenen Gesichtszüge formten ein Lächeln.

Mittelerde Adventskalender 2022Where stories live. Discover now