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Die Burg im Schnee

Dichter Schnee trieb am Studierzimmerfenster des Prinzen von Ithilien vorbei. Der Winter war nun endgültig auch im Süden Mittelerdes eingekehrt. Selbst hier, im lieblichen Ithilien, dem bunten Garten Gondors, lagen Pflanzen und Tiere in tiefem Winterschlaf.

Selten jedoch passierte es, dass der Schnee von den Bergen, die einst die Grenze zu dem dunklen Lande Mordor gebildet hatten, bis hinab in die hügeligen Niederungen Ithiliens kam.

Doch in dieser Nacht hatte es das erste Mal angefangen, zu schneien. Und auch am Morgen hatte der Schneefall angehalten. Von einem dicht bewölkten, grauen Himmel fielen sachte Schneeflocken hinab, bedeckten die Landschaft mit einer zauberhaften und dicken weißen Decke.

Ganz still war die Welt geworden, die Zeit schien gleichsam anzuhalten.

Doch das Gelächter eines einzelnen Kindes zerriss die winterliche Ruhe.

Elboron, der Sohn Faramirs, des Truchsess' von Gondor und Prinzen von Ithilien, und Eowyns, der Schildmaid von Rohan, war an diesem Morgen begeistert aus dem Haus gerannt und hatte sich in das Schneetreiben geworfen.

Mit einem Lächeln hielt Faramir in seiner Bewegung inne und blickte von seinen Unterlagen auf. Schon seit dem Morgen befasste er sich mit einem Bericht, den er an König Elessar zu senden gedachte.

Doch für einen Moment war all dies vergessen und ein freudiges Funkeln trat in seine Augen, als er nach draußen sah und Elboron erblickte, der durch den Schnee tollte.

Und während er so voller Zuneigung seinen Sohn beobachtete, schien es ihm, als würde eine Stimme ihn rufen, eine Stimme aus der Vergangenheit.

„Faramir! Faramir!"

Jemand rüttelte ihn ungeduldig und rief seinen Namen.

Verschlafen öffnete Faramir die Augen und rieb sich über das Gesicht. „Wasn los?", murmelte er.

Sein Bruder Boromir stand neben seinem Bett, die Haare noch ganz verstrubbelt von der Nacht. „Komm, steh schon auf! Es hat geschneit! Auf den Pelennor Feldern liegt Schnee!", rief er und zog dem kleinen Bruder ungeduldig die Bettdecke weg.

Tatsächlich war dies gar nicht nötig, um Faramir zu wecken. Begeistert sprang er aus dem Bett und eilte an das Fenster. Sich auf die Zehenspitzen stellend, spähte er nach draußen. Und tatsächlich, eine weiße Winterlandschaft breitete sich unter ihnen aus.

Wenig später hatten die beiden Brüder sich angekleidet, mit unglaublich hoher Geschwindigkeit ein Frühstück zu sich genommen und waren vor die Stadttore gerannt.

Eine kleine Gruppe Wachen folgte ihnen mit etwas Abstand, von den zwei Jungen weitgehend ignoriert.

„Lass uns eine Schneeballschlacht machen!", entschied Boromir und Faramir nickte mit leuchtenden Augen. Ein seltener Anblick war dies, war doch erst in diesem Herbst ihre Mutter Finduilas einem Fieber erlegen. Doch der glitzernd weiße Schnee unter einem strahlend blauen Himmel, die klirrende Kälte und der Gedanke an eine nervenaufreibende Schneeballschlacht verscheuchten die Trauer.

Eifrig grub Faramir seine Hände in den Schnee und formte den ersten Ball.

Da traf ihn plötzlich eine eisig kalte Ladung Schnee im Nacken. Laut lachend wirbelte er herum und warf seinen Ball nach Boromir. Der sprang zur Seite und entging so einem Treffer.

Atemlos setzte Faramir ihm nach, beugte sich dabei erneut nach dem Schnee und warf ein weiteres Mal. Doch nun schleuderte auch Boromir einen Ball nach ihm. Beide Bälle trafen sich in der Luft und die zwei Kinder standen in einer Wolke aus Schnee.

Prustend wischte sich Faramir den Schnee aus dem hochroten Gesicht. Doch als er wieder sehen konnte, erblickte er schon Boromir, der mit den Fäusten voller Schnee auf ihn zu rannte.

Mit einem lauten Kreischen, das in lautes Lachen umschlug, floh er. Boromir war schnell, doch Faramir war wendig. Wie ein Hase schlug er Haken und entkam so dem Älteren.

Im Rennen griff er nach weiterem Schnee, dann wandte er sich plötzlich um und warf seine Munition nach dem überraschten Boromir. Diesen traf die Ladung vollkommen unvorbereitet ins Gesicht.

„Ha!", machte Faramir triumphierend und grinste voller Stolz.

Boromir lachte laut und schüttelte den Schnee aus seinen Haaren.

„Wir sollten uns Wälle bauen. Dann können wir uns dahinter verschanzen.", schlug er vor und sogleich machten sie sich beide an ihre Bollwerke.

Faramir jedoch kämpfte mit dem Schnee. So sehr er sich auch mühte, sein Festungswall wollte nicht halten. Verzweifelt schob er den Schnee zusammen, doch es gelang ihm einfach nicht, eine Mauer zu bauen.

Frustriert spähte er zu seinem Bruder, der irgendwie Blöcke aus dem Schnee zu formen schien.

Boromir bemerkte die Not des Jüngeren, ließ von seinem Bauvorhaben ab und ging zu Faramir hinüber.

„Komm, ich zeig dir, wie das geht.", sagte er, kniete sich neben Faramir in den Schnee und erklärte, wie dieser den Schnee zu Blöcken formen konnte, die sich dann zu einer Mauer aufschichten ließen.

Fasziniert blickte Faramir auf die erste Reihe Schneeziegel, die sie zu zweit gebaut hatten.

„Woher weißt du das?", fragte er.

„Mutter hat es mir beigebracht.", erwiderte Boromir, die Augen plötzlich seltsam funkelnd und mit etwas hellerer Stimme als sonst, „Im letzten Winter, als du mit Husten im Bett lagst."

Kurz schwiegen die beiden Jungs und Faramir wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Boromir starrte auf seinen Hände.

„Lass uns weiterbauen.", durchbrach dann Faramir die Stille und sie machten sich wieder ans Werk.

Die Schneeballschlacht war bald vollkommen vergessen. Später am Tag bestaunten die Bewohner von Minas Tirith die gewaltige Burganlage aus Schnee, die sich vor den Toren ihrer Stadt erhob, mit gewaltigen Mauern, einem Burggraben und vieler trutziger Türme.

Nur einen kurzen Blick warf Faramir auf seine Aufzeichnungen, dann entschied er, dass er mehr als genug gearbeitet hatte.

Er legte die Feder beiseite, verschloss das Tintenfass und löschte seine Kerze.

Dann ging er aus dem Zimmer und suchte seine Frau.

Er fand Eowyn lesend in ihrem Lieblingssessel am Feuer. „Komm mit mir!", bat er sie sanft und streckte die Finger nach ihr aus.

Mit einem fragenden Gesichtsausdruck legte sie ihre Hand in die seine, erhob sich und folgte ihm. Faramir legte ihr den Mantel seiner Mutter um die Schultern, den er ihr einst geschenkt hatte, und nahm auch für sich einen dicken Umhang aus Fell.

Dann öffnete er die Tür und trat mit Eowyn hinaus in das Schneetreiben.

Er warf ihr ein kurzes Lächeln zu, dann rief er laut: „Elboron!"

Mit erhitzten Wangen und strahlend vor Glück kam Elboron auf seine Eltern zugelaufen.

Faramir ließ sich auf ein Knie herab und fragte seinen Sohn: „Weißt du, wie man eine Burg aus Schnee bauen kann?"

Elboron schüttelte den Kopf.

„Dann komm,", sagte Faramir, erhob sich wieder und ergriff die Hand seines Sohnes, „ich finde, wir drei sollten eine bauen."

geschrieben von Varda_92

Mittelerde Adventskalender 2022Where stories live. Discover now