10

64 13 11
                                    

Hinter dem Schleier

Es war ein eisig kalter Tag, an dem Théoden das erste Mal einen Blick hinter die Schleier dieser Welt warf. Die gesamte Nacht über hatte es geschneit und am nächsten Morgen lag ganz Edoras in eine dichte weiße Decke gehüllt und glitzernd in der ersten Morgensonne da. Die Kinder der Stadt hatten jedoch nur kurz Augen für die zarte Reinheit der unberührten Welt, schon siegte ihre Abenteuerlust und unter lautem Gejohle hüpften sie durch den Neuschnee.

Während die Älteren sich Schneeballschlachten lieferten, formten die jüngeren Geschwister Schneefiguren von stolzen Rittern und ihren treu ergebenen Reittieren. Ausgelassenheit lag in der Luft und auch die älteren Bewohner der Stadt ließen sich von der Lebensfreude der Kinder anstecken.

Sich mit seinem besten Freund gemeinsam gegen eine hinterlistige Abwurfattacke zur Wehr setzend, bemerkte Théoden zunächst überhaupt nicht, dass seine kleine Schwester Théodwyn nicht länger mit den anderen Kindern spielte, sondern seinen Namen rief. Das blondgelockte Mädchen kniete ein wenig abseits im Schnee, in ihren vor Kälte bereits rosigen Hände sorgsam einen dunklen Gegenstand schützend.

Beim Näherkommen erkannte Théoden, dass es kein Stein war, den sein Schwesterchen im Schnee gefunden hatte, sondern ein kleiner Vogel mit mattbraunem Gefieder.

Das zarte Geschöpf wirkte selbst in den Kinderhänden klein und zerbrechlich. Mit tiefschwarzen Augen blickte es ängstlich in die Gesichter der sich neugierig Vorbeugenden, doch keine Kraft schien mehr in dem Körper zu stecken, denn er rührte sich nicht.

„Lass ihn uns schnell zur Heilerin bringen!", schlug Théoden vor und setzte sich sogleich an die Spitze der kleinen Kinderschar, die sich, nun ebenfalls neugierig geworden, versammelt hatte. Ganz still hielt der kleine Vogel, als man ihn zum nahegelegenen Haus der Kräuterkundigen brachte und regte sich auch nicht, als die alte Frau sich über ihn beugte, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.

„Wird er wieder gesund?", fragte die kleine Théodwyn mit hoffnungsvoller Stimme und sah die Kräuterkundige mit ihren großen blauen Augen bittend an. Nicht nur der Blick des blonden Mädchens ruhte auf der Heilkundigen, alle Kinder, Théoden eingeschlossen, warteten in bangem Hoffen auf die Antwort.

Nachdenklich wiegte die alte Frau den Kopf hin und her, als wäre sie eine Göttin und wäge das Schicksal des kleinen Geschöpfes ab. Dann jedoch seufzte die Frau und erklärte: „Ich fürchte, die Zeit, dieses Kerlchens ist abgelaufen. Gib ihn mir, Théodwyn, und dann geht alle hinaus und grabt ein Loch, in das wir Hülle dieses Vögleins betten können."

Mit zitternden Händen tat die junge Rohir, wie ihr geheißen, während über ihre rosigen Wangen bereits erste Tränen liefen. Erdrückende Stille hatte sich über den kräuterduftenden Raum gelegt, hing schwer wie Salbeirauch in der Luft. Niedergeschlagen fassten die Kinder sich an den Händen und verließen schweigend das Haus, um auszuführen, was ihnen aufgetragen worden war. Nur Théoden blieb.

„Willst du nicht lieber zu deinen Freunden gehen? Dieser Anblick ist für Kinderaugen nicht leicht zu ertragen", warnte die alte Frau. Der Junge schüttelte den Kopf, zu schüchtern etwas zu sagen, aber wild entschlossen, dem Tod ins Auge zu blicken.

Die klugen Augen der Heilerin musterten Théoden genau, ehe sie nickte: „Wohl an, Bürschchen, ich habe dich gewarnt."

Und mit diesen Worten wandte sie sich von ihm ab, ihrem vollkommen zugestellten Kräutertisch zu, auf dem allerhand Utensilien zwischen getrockneten Kräutern verstreut lagen.

„Was werdet ihr mit ihm tun?", wagte der Junge kaum zu fragen, als die Alte sich mit einem großen Messer in der Hand umdrehte.

„Ihn mit einem gezielten Schlag auf den Kopf erlösen. Sein Flügel ist gebrochen und wird nie wieder vollständig verheilen. Selbst wenn wir ihn den Winter durchfütterten, so wäre dieses Vögelein doch ein Lebtag an den Boden gefesselt."

Mittelerde Adventskalender 2022Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt