Kapitel 37: Erkenntnis

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„Und wir sind nur zu dritt“, fügte Aila hinzu. „Ohne Tikva geht es nicht, dass hast du selbst gesagt.“

„Genau, wir können nicht das Risiko eingehen, dass wir verlieren.“

Erin wandte ihren Blick zu den Thronen, doch sie sah nur die wogende Menschenmenge vor ihnen. Dröhnende Musik setzte ein, das Programm nahm seinen Lauf. „Aber sie weiß nicht wie wir aussehen. Wozu haben wir uns verkleidet?“

„Er weiß wie du aussiehst, das reicht.“ Saya seufzte. „Wie wir es drehen und wenden, die Gefahr, dass Veara uns erkennt ist zu groß. Wir sind hier in der Unterzahl. Es könnte alles in einer großen Katastrophe enden.“

„Erin, wir können nicht mehr auftreten“, sagte Aila leise.

Erin biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte nicht, dass noch ein Plan schief ging. Selbst wenn es nur der Auftritt war. Wegen ihr funktionierte kein Plan mehr. Alles lief aus dem Ruder, weil sie so dämlich gewesen war. Ihre Schuld.

„Erin, wir haben ihm alle vertraut“, sagte Saya. „Du konntest es nicht wissen. Keiner konnte es ahnen…“ Ihre Stimme verlor sich und ihre Gedanken schienen in die Ferne zu schweifen, als ob sie sich gerade an etwas erinnern würde. Mit einem Ruck war sie wieder in der Gegenwart. „Der einzige der Schuld hat, sitzt dort oben und wird morgen gestürzt.“ Wieder war es so als ob sie mehr zu sich selbst sprach als zu Erin.

Erin verstand langsam. Saya hatte selbst schon mal so etwas erlebt. Die beiden Frauen tauschten einen Blick und dann nickte Erin. „In Ordnung. Es tut mir so unendlich Leid. Wenn meinetwegen jetzt alles schief geht-"

„Darüber machen wir uns Gedanken wenn es soweit ist“, unterbrach Aila sie abrupt. „Wir sollten verschwinden. Was ist Rimano?“

„Der soll jetzt nicht unsere Sorge sein“, sagte Saya. „Erin, zeig uns den Weg. Irgendwas Positives sollte der Abend schon haben.“

Die drei bahnten sich unter großen Mühe ihren Weg zurück zu der Tür, durch sie gekommen waren. Sie ernteten viele erstaunte Blicke, aber sie scherten sich nicht darum. Die Wachen hielten sie an der Tür und fragten wohin sie wollten. Geistesgegenwärtig log Saya, dass sie etwas vergessen hätte und es nur schnell holen würden.

Als sie außer Sichtweite der Wachen war, liefen die drei zur Küche zurück, denn von dort aus würde Erin den Weg leichter finden. Außerdem mussten sie noch ihre Sachen zurück holen. Zielsicher führte Erin sie zu der Kreuzung, dort bogen sie in den richtigen Gang ab. Ihre hastigen Schritte hallten durch die verlassenen Gänge, es war fast schon unheimlich.

Eine ganz andere Anspannung als heute Nachmittag machte sich in Erin breit. Heute Nachmittag war die einzige Gefahr gewesen, dass sie in den falschen Gängen erwischt wurden, irgendwo wo sie nicht sein sollten. Als sie noch als Gauklerinnen unterwegs waren. Jetzt war die Gefahr realer, stärker. Es bestand die ziemlich große Wahrscheinlichkeit, dass man bald hinter ihnen her sein würde, aber dann ging es um ihr Leben. Jetzt waren sie als Vearas Feinde in den Gängen unterwegs. Und mit denen würde kurzen Prozess gemacht.

In Sylon waren sie auch in Gefahr gewesen, aber da hatte Erin so unter Adrenalin gestanden, dass es ihr nicht so sehr bewusst gewesen war. Jetzt war es das Nichtwissen, ob man sie entdeckt hatte, dass ihr so Angst machte.

Lange hörte man das schwere Atmen und ihre Schritte während sie durch die Gänge hetzten. „Wir müssen in die Nähe der Waffenkammer“, erklärte Erin.

„Da hätte ich den Gang nie vermutet“, murmelte Saya. „Aber wir sind definitiv auf dem richtigen Weg.“

Erin stoppte in dem Gang. Prüfend sah sie sich nach den Steinen aus die den Mechanismus auslösen würden. Ein paar Meter entfernt hing eine Fackel, eine der wenigen in diesem Gang. Sie lächelte triumphierend als sie die Steine entdeckte, ihre Oberfläche war glatter, geschliffener als die der anderen. Zeichen der vielen Finger, die schon darüber gestrichen waren.

„Zwei unter der Decke und drei diagonal nach unten auf der rechten Seite.“ Erin tippte beim Sprechen die entsprechenden Steine an und knirschend öffnete sich die Wand. „Na bitte.“

Saya riss die Fackel aus der Halterung, dann traten sie in den Gang, während sie sich die Tür wieder hinter ihnen schloss.

„Wir kommen in einem Garten auf der zehnten Terrasse raus“, erklärte Erin während sie weiter liefen.

Saya drehte sich erstaunt zu ihr um. „Ein Garten, sagst du? Mit Kirschbäumen?“

„Ja, wieso fragst du?“

Saya lächelte. „Den Garten kenne ich. Aber er ist seit langer Zeit abgeschlossen und nicht mehr viele kennen ihn.“

„Ruben hatte einen Schlüssel“, sagte Erin langsam. Ihr dämmerte auch gerade warum. Aber sie schob den Gedanken von sich. Es gab Wichtigeres.

„Wenn der Garten abgeschlossen ist, wie kommen wir dann daraus?“, warf Aila fragend ein. „Oder hast du einen Schlüssel?“

„Dann klettern wir über das Tor“, erwiderte Saya wie selbstverständlich. „So gehe ich da auch immer rein.“ Sie sah die skeptischen Blicke der anderen und zuckte mit den Schultern. „So schwer ist das auch nicht.“

Endlich kamen sie am Ende an. Erin öffnete die Tür, dann standen sie wieder unter freiem Himmel. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die weißen Mauern in rotglühendes Licht. Die Kirschbäume standen immer noch in voller Blüte. Es war immer noch alles genauso wie in Erins Erinnerung. Eine Erinnerung, die sie lieber vergessen würde.

Saya war an den Rand des Gartens getreten und sah auf die Stadt hinab. Aila und Erin stellten sich neben sie. „Wenn wir die Sonne das nächste Mal sehen, werden wir uns auf dem Weg zu unserem Schicksal befinden.“

„Wenn wir die Sonne das nächste Mal sehen, werden wir hoffentlich zu viert sein“, sagte Aila lächelnd.

„Wenn wir die Sonne das nächste Mal sehen, werden wir für die Freiheitkämpfen“, schloss Erin leise.

Still beobachteten sie wie die Sonne weiter sank. Es waren ein paar Momente Ruhe, die viel zu schnell vorbei waren. Sie kletterten über das Tor und tauchten in das Gewirr der Stadt ein. Aila und Erin würden zu Madame Rosa zurück kehren, während Saya noch einmal zum Lager fliegen würde. Sie hofften auf Nachrichten von Tikva.

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