Kapitel 37: Erkenntnis

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Kapitel 37: Erkenntnis

Tikva war erschöpft. Die Muskeln in ihren Flügeln schmerzten langsam und sie trugen sie nicht mehr mit der gleichen Kraft wie noch vor ein paar Stunden. Zum Teil schrieb sie es der langen Gefangenschaft zu und zum Teil auch dem unerbittlichen Gewaltflug den sie sich auferlegte. Sie wusste, dass der Angriff nach Plan im Morgengrauen starten sollte und bis dahin wollte sie in Tais sein. Das bedeutete aber immer noch, dass sie dann in den Palast musste und die anderen drei finden musste.

„Tikva“, rief Queratan von weiter hinten. Er war während des ganzen Fluges hin und her geschwirrt um zu schauen ob es allen gut ging. Diejenigen die sie aus dem Gefängnis befreit hatten, machten langsam, aber sicher schlapp. „Wir müssen landen und eine Pause machen.“

Tikva seufzte und ließ sich zu Queratan zurück fallen. Es war sicherlich schon das zehnte Mal, dass er sie nach einer Pause fragte. Verstand er denn nicht, dass sie so schnell wie möglich nach Tais mussten? Im Morgengrauen würde der Angriff starten und man würde auf sie zählen. Soviel Zeit war schon verloren gegangen. „Wir können keine Pause machen! Es sind nicht mehr viele Stunden bis zum Morgengrauen und wir sind noch nicht mal in der Nähe von Teoras.“

Queratan schüttelte den Kopf. „Siehst du denn nicht, dass die anderen nicht mehr können? Es bringt keinem etwas wenn wir total schlapp dort ankommen. Wir müssen eine Pause machen. Egal wo wir sind.“

„Nein.“ Tikva blieb hart. „Die anderen warten schon viel zu lange auf uns.“ Unversöhnlich reckte sie das Kinn und richtete den Blick wieder nach vorn.

Queratans Miene wurde genauso unversöhnlich. „Nun gut. Wenn das deine Meinung ist.“

„Das ist es.“

„Wer eine Pause machen will, der landet jetzt“, befahl Queratan mit donnernder Stimme. „Alle anderen können weiter fliegen. Wir treffen uns im Lager wieder.“ Sofort sanken die ersten Ingelus in Richtung Boden. Viele warfen noch einen Blick zu Tikva, der fast schon entschuldigend war, dann setzten auch sie zum Landeanflug an. Queratan nickte Tikva zu, dann flog er den anderen hinterher.

Tikva stoppte mitten in der Luft und sah fast schon fassungslos ihren Kameraden hinterher. Nur noch Eya schwebte neben ihr. „Dann sind es wohl nur noch wir zwei.“ Tikva lächelte ihrer Freundin zu. „Wir sollten weiter.“

Eya nickte langsam, ehe sie noch einmal zu den Ingelus unter ihnen blickte und dann Tikva folgte, die schon wieder losgeflogen war. Schweigend flogen sie immer weiter nach Nordwesten, dem Lager und Tais entgegen.

Das war vor ein paar Stunden gewesen und Tikva musste mittlerweile sogar sich selbst eingestehen, dass sie eine Pause brauchte. Ihre Kehle war trocken und sie hatte fürchterlichen Durst. Ihr Oberteil und die feinen Federn am Flügelansatz waren durchgeschwitzt. Sie sah verstohlen zu Eya hin, die ein Stück zurück gefallen war. Auch sie trug deutliche Zeichen der Erschöpfung. Doch Eya war zu stolz, zu loyal um so etwas zuzugeben, das wusste Tikva.

Erst jetzt begriff Tikva, was für Strapazen sie den anderen auferlegt hatte. Und dass nur weil sie pünktlich in Tais sein wollte. Sie hatte die anderen immer weiter getrieben, weil es am Anfang immer noch ihr Fehler war, dass sie zweimal gefangen genommen wurde. Es war ihre eigene Dummheit, dachte sie bitter. Und die anderen hatten damit nichts zu tun. Sie sollte dankbar sein, dass man sie überhaupt befreit hatte. Sonst würde sie wahrscheinlich immer noch in diesem Gefängnis schmoren. Stattdessen hatte sie alle immer weiter gezwungen und nicht auf ihr Wohl geachtet. Viele waren länger als sie im Gefängnis gewesen und um einiges schwächer. Im Gegensatz zu Queratan war ihr das egal gewesen. Er hatte richtig gehandelt.

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