Zusatzkapitel

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~ 4 Jahre danach ~

"Noemi", ruft Mum zum zweiten Mal, und ich laufe die Treppe hinunter. Sie steht in der Küche und drückt Jona gerade ein paar Kaffeetassen in die Hand. "Da bist du ja", begrüßt sie mich und deutet auf einen Stapel Kuchenteller. "Kannst du deinem Bruder bitte beim Tischdecken helfen?" Ich nicke und schnappe mir die Teller. Geschickt verteile ich sie auf dem Esstisch im Wohnzimmer und kehre zurück in die Küche.

Unauffällig bewege ich mich in Richtung Erdbeerkuchen, der mich verheißungsvoll anlacht, aber Mum durchschaut meine Absichten sofort. "Naschen verboten", sagt sie und gespielt beleidigt verlasse ich die Küche und geselle mich ins Wohnzimmer zu meinem Bruder. "Wo ist Dad?", frage ich und sehe mich suchend um. "Im Keller", erklärt Jona, "er wollte schon mal den Grill draußen aufbauen und holt den Sack mit der Kohle." Ein freudiges Quietschen entschlüpft mir bei dem Gedanken an unseren Grillabend.

Jeden Monat kommen Onkel Addi und Tante Stella an einem Abend zu uns. Erst gibt es Kuchen, später essen wir dann gemeinsam zu Abend. Und da das Wetter heute besonders gut ist, haben Mum und Dad eben beschlossen, dass wir grillen.

Eigentlich ist Tante Stella gar nicht meine richtige Tante. Zumindest noch nicht, wie ich glaube. Aber irgendwann habe ich sie und Onkel Addi gefragt, wann ich sie denn endlich Tante nennen kann. Mum war ziemlich entsetzt und hat mich sprachlos angesehen, aber nach einem kurzen Schockmoment hat Stella gelacht und gesagt, ich könne sie nennen, wie ich möchte. Seitdem ist sie Tante Stella.


Sehnsüchtig starre ich auf den Kuchen, den Mum genau in der Mitte des Tisches positioniert hat. Sie bemerkt meine Ungeduld und lächelt mir zu, während Dad allen Erwachsenen Kaffee einschenkt. Nur Onkel Addi hat auf seinen Tee bestanden. Er ist ein strikter Kaffeeweigerer, hat Mum mal gesagt, und der Grund, warum wir überhaupt Teebeutel im Haus haben. Jedenfalls stellt Dad die Kaffeekanne endlich auf den Tisch und der Kuchen wird angeschnitten.

"Und dann habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst", erzähle ich. "Was einen Anruf bei uns zur Folge hatte", ergänzt Mum mit einem tadelnden Blick. "Selber schuld", halte ich dagegen, "ich habe ihn doch sogar vorgewarnt." Onkel Addi zwinkert mir zu und grinst, während Mum nur den Kopf schüttelt. "Ich weiß nicht, woher sie diese Sturköpfigkeit hat, von uns jedenfalls nicht." Sie blickt zu Dad, der nur milde lächelt.

Mein Onkel lacht. "Also dich habe ich als Kind auch nicht so in Erinnerung", meint er, an Mum gewandt. Dabei weiß ich, dass auch sie sehr wütend werden kann. Vor ein paar Jahren hatten unsere Eltern Jona und mich für ein paar Tage bei Freunden einquartiert. Als wir wieder zuhause waren, haben sie sich ziemlich gestritten. Ich habe Mum noch nie so aufgebracht schreien hören. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich glaube, Dad hat geweint. Er muss etwas wirklich Schlimmes gemacht haben. Früher dachte ich, er hätte sie vielleicht betrogen, aber das glaube ich nicht. Dad vergöttert sie, er würde Mum am liebsten auf Händen tragen. Sieben Monate war er nicht zuhause, dann hat Mum ihm verziehen. Und sie haben sich zum Glück nie wieder so gestritten.


"Schachmatt", verkünde ich, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Onkel Addi zieht eine Flunsch, kratzt sich am Kopf und mustert verwirrte das Spielfeld. Ich gewinne jedes Mal, wenn wir spielen, aber beim Anfang eines jeden Spiels erklärt er dann wieder von Neuem, dieses Mal sei das Glück auf seiner Seite.

Ich werfe einen Blick zum Sofa, wo Jona und Tante Stella sich angeregt unterhalten. Normalerweise redet mein Bruder nicht so viel, aber bei ihr taut er richtig auf. Vielleicht, weil sie selber ein etwas stillerer Mensch ist. Introvertiert, sagt Mum. Jona ist eher introvertiert und ich bin extrovertiert. Extrovertiert. Ich mag das Wort. Irgendwie muss ich dann an eine Farbexplosion denken, bunt und laut.

Mum und Dad stehen im Garten und schauen der Sonne zu, wie sie langsam hinter dem Gartenzaun versinkt. Dad hat einen Arm um sie gelegt und sie lehnt mit ihrem Kopf an seiner Schulter. Auch wenn es für meine Verhältnisse etwas zu kitschig ist, kann ich mir einen kleinen Seufzer nicht verkneifen, dann wende ich mich wieder dem Schachspiel zu und fege Onkel Addis König vom Brett.


703 Wörter.

Soul ShardWhere stories live. Discover now