5. Kapitel: Staub und Erinnerungen

28 6 2
                                    



Beide saßen angeschnallt im Auto, sie mit den Einkaufstüten auf dem Schoß, doch er fuhr noch nicht los. "Worauf warten Sie?", wollte sie nach einiger Zeit wissen. "Ich möchte mit dir einen kleinen Ausflug machen", begann er, den Oberkörper unbequem nach hinten gedreht, damit er sie ansehen konnte. Als er nicht weitersprach, sah sie ihn fragend an. "Ich weiß selber nicht, wohin es geht", erklärte er, "aber du weißt es." Sie wandte den Blick ab und starrte durch die Seitenscheibe. "Ich möchte, dass du uns zu dir nach Hause führst."

"Links, rechts oder geradeaus?", fragte er und blickte abwechselnd zwischen den Optionen hin und her. "Rechts." Er bog auf eine lange Landstraße ab, mit vereinzelten leichten Kurven und von Bäumen gesäumt. "Warum warst du vor zwei Wochen dort?" Schweigen erfüllte den Wagen, nur der Motor war zu hören. Als er schon glaubte, keine Antwort mehr zu erhalten, sprach sie plötzlich doch.

"Manchmal fahre ich dorthin. Es ist so, als würde ich mich vergewissern." Er schaute kurz zur Seite und sah, wie sie ihre Lippen zusammenpresste. Daher verzichtete er auf die Nachfrage, wobei sie sich "vergewissern" müsse. "Da vorne, die Einfahrt", riss sie ihn aus seinen Gedanken. "Da ist es."

Er parkte das Auto und die beiden verließen das Fahrzeug. Der Anblick, der sich ihnen darbot, war nicht schön. Ein altes Gehöft war dies wohl einst gewesen, groß und stattlich. Aber der womögliche frühere Glanz war verschwunden. Das Haus war mit der Zeit immer mehr verfallen, die Türen hingen nur noch schief in den Angeln, das Fensterglas war brüchig und das Dach hatte kaum noch Ziegel. Der Weg war fast komplett zugewachsen und oben auf dem Dach ragte ein dunkler Schornstein sehr schief empor. 

Sie bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp, bis sie schließlich vor der Haustür standen. Er besah die baufällige Fassade gründlich. Sehr vertrauenserweckend sah das Ganze ja nicht aus. Vorsichtig drückte er gegen die Tür. Sie schwang problemlos zur Seite.

Drinnen wirkte alles wie in einer längst vergangenen Zeit eingefroren. Licht drang durch die Türöffnung hinein, malte seinen Schatten auf den schmutzigen Holzboden, Staub hing träge in der Luft. Er wagte sich hinein, die Dielen ächzten bei jedem seiner Schritte. Auf dem Küchentisch stand eine getöpferte Vase, mit vertrockneten Stängeln darin. Bei seiner Berührung bröselten sie und lösten sich in Luft auf.

Er erschrak ein wenig, als sie plötzlich hinter ihm stand, lautlos war sie ihm gefolgt. "Hier hast du also gelebt?" Sie nickte nur. "Wie lange lebt hier niemand mehr?" "Elf Jahre", erwiderte sie leise. Er rechnete. "Also seit du zwölf bist, wohnst du hier nicht mehr?" Sie nickte erneut. "Warum nicht?", fragte er weiter. "Umzug."

Er blickte sich weiter um und stieg dann eine sehr instabile Holztreppe nach oben. Die Stufen knarzten laut, er bekam Angst, sie würden unter ihm zusammenbrechen. Er fand ein Kinderzimmer. Mit zwei Betten, einem Regal, pinkem Teppich und einem großen Fenster. Sie trat neben ihn ans Fenster und blickte hinaus. Ihm war schleierhaft, wie sie, ohne ein Geräusch zu verursachen, die Treppe hochgekommen war.

"Hast du Geschwister", wollte er wissen, mit einem Seitenblick zum zweiten Bett. "Ja. Eine Schwester. Und einen Bruder." Sie sah weiterhin nach draußen, kehrte ihm den Rücken zu. "Möchtest du von ihnen erzählen?" "Nein", antwortete sie, und er beließ es dabei.

Nach einer längeren Zeit des Schweigens begann er wieder. "Was ist passiert, als du das letzte Mal hier warst?" "Nichts." Und nach kurzer Stille fügte sie hinzu: "Ich bin wieder weg gefahren." "Und wohin?" Er trat  neben sie und betrachtete ebenfalls den verwilderten Garten, der sich nach all der Zeit selbstständig gemacht hatte. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn direkt an. "Ich weiß es nicht."

Er war ein wenig enttäuscht, als sie wieder in sein Auto stiegen und er ohne eine bahnbrechende Erkenntnis zurückfahren musste. Andererseits war er auch froh, diesen Ort nun zu verlassen. Er fühlte sich hier nicht besonders wohl, sicher schon gar nicht, und er empfand sich selbst auch ein wenig als einen Eindringling. Das Haus bereitete ihm Unbehagen, eigentlich das gesamte Grundstück.

Sie waren ein Stückchen gefahren, als sie sich plötzlich ruckartig aufrichtete. "Da!" Er starrte durch die Windschutzscheibe, sah allerdings nichts Außergewöhnliches. "Was ist denn?" "Die Straße da", erklärte sie. Und tatsächlich, dort war eine Abzweigung. "Da sind wir auf dem Hinweg aber nicht langgefahren", meinte er. "In die bin ich abgebogen, vor zwei Wochen!"


Stimmen, laut, so laut, dass man sie nicht ignorieren kann. Sie sind wütend, aufgebracht. Und dann Schreie. Die beiden klammern sich im Schrank hilflos aneinander, pressen sich die Hände auf die Ohren. Es scheinen Stunden zu sein, dann ist nichts mehr zu hören. Tränen laufen über die Wangen. Denn die Stille ist noch viel beängstigender als die Schreie, auch wenn all die Male davor nicht das passiert ist, wovor sie sich fürchten. Aber jedes Mal könnte es soweit sein.


798 Wörter. Mir geht es heute nicht so gut, habe mich allerdings doch dafür entschieden, ein Kapitel hochzuladen. Hatte jedoch keine Zeit, es nochmal zu korrigieren, deshalb macht mich gerne auf Fehler aufmerksam.

Soul ShardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt