11 - Bloß elf Minuten bis zur Antwort

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Am nächsten Tag schenken Reana und ich uns keine Todesblicke

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Am nächsten Tag schenken Reana und ich uns keine Todesblicke.
Weder in der Frühstücks-, noch in der Mittagspause, wir sitzen stattdessen friedlich an einem Tisch und sprechen mit Val und Ambra. Der Vorfall von gestern wird einfach unter den Tisch gekehrt, es gibt dazu nicht mehr viel zu sagen.
Nach der Pause sitze ich zusammen mit Lyssa und Reana im Geographieunterricht, letzte Stunde. Wir haben die Stunde noch für die Vorträge Zeit, den Rest müssen wir außerhalb des Unterrichts erledigen.

Am Ende der Stunde spreche ich schnell mit Reana ab, dass wir am Nachmittag noch einmal über das Buch sprechen. Mir will kein vernünftiger Grund einfallen, warum ausgerechnet mein bester Freund es Reana gegeben hat.
Was hat Val damit zu tun?

Reana geht unsere "Ermittlungen", wie sie die Sache getauft hat, sehr logisch an. Auf dem Teppich in meinem Zimmer.
"Also, lass uns zusammenfassen: Du warst für das Slam-Book letztes Jahr verantwortlich, hast es zwei Wochen vor den Ferien 'verloren'", sie setzt Anführungszeichen, "Und am letzten Tag vor den Ferien ist es wieder aufgetaucht – mit einem Satz und einer Telefonnummer. Ich korrigiere, meiner Telefonnummer. Stimmt das soweit?"
Ich nicke bloß. Wenn ich mir das anhöre klingt es schon lächerlich.

"Okay. Du hast darauf geantwortet und seitdem geht diese Kommunikation hin und her. Du hast mich auf dem Spielplatz gesehen, wie ich das Buch unter der Bank verstaut habe und hast daraus geschlossen, das ich es war."
Ich nicke wieder.

Ich kannte Reana's Telefonnummer nicht, deshalb bin ich nicht gleich darauf gekommen, als ich ihr das Buch gezeigt habe, hat sie sie allerdings sofort erkannt.
"Dann hast du weiter geantwortet, mit dem Hintergrundwissen, dass ich es war, was sich ja im Klassenraum als falsch herausgestellt hat. Und ich habe mich schon gewundert, warum du mich am Freitag so seltsam begrüßt hast. Außerdem esse ich Schokocreme nur manchmal mit Butter. Eventuell weil ich vergesse, was ich auf das Brot oder Brötchen schmieren möchte." Der letzte Satz geht in einem Gemurmel unter, ich habe jedoch verstanden, was sie mir sagen wollte. Ein amüsiertes Grinsen kann ich mir daraufhin nicht verkneifen.

"Die organisierte Reana, die immer alles im Kopf hat, vergisst, dass sie Schokocreme essen möchte? Sag' das nochmal." In Begleitung zu meinem letzten Satz hole ich mein Handy heraus und öffne die Sprachmemo-App. Das brauche ich als Beweis. Wenn sie's mir schriftlich gibt, reicht's auch schon.
"Oh, ach ja, mit P. wurde unterschrieben, weil derjenige offensichtlich deinen Spitznamen für mich wusste", ergänzt sie.
"Das ist mir gestern erst eingefallen und du merkst das so schnell?" Ich schlage mit der Hand gegen meine Stirn. Das hätte ich auch früher bemerken können.
Jetzt bin ich ein bisschen beleidigt, immerhin habe ich zehn Wochen dafür gebraucht und sie gerade einmal vierundzwanzig Stunden.

Reana zuckt daraufhin nur mit ihren Schultern und fährt fort.
"Gut, Valentin hat mir das Buch gegeben und meinte, ich solle es unter die Bank auf dem alten Spielplatz legen, was ich auch getan habe. Die Frage ist: Warum sollte ich das tun? Hätte er das nicht auch selbst machen können oder jemand anderen fragen?"

Dieses ganze Gespräch wirft offensichtlich mehr Fragen auf, als es beantwortet.
Wir sollten Val mal einen Besuch abstatten.

"Was hältst du davon, wenn wir deinem besten Freund ein paar Fragen stellen?" Reana spricht meine Gedanken im selben Moment aus.
Ich kann erneut nur nicken.
"Also, wollen wir das jetzt gleich erledigen?"
"Das geht nicht, Val hat noch Schwimmtraining. Das müsste aber in circa 30 Minuten vorbei sein", füge ich nach einer kurzen Pause und einem Blick auf die Uhr an.
"Gut, dann überlegen wir uns in der Zeit, was wir ihn fragen."

Reana wirkt entschlossen, herauszufinden, wer in ihrem Namen geschrieben hat. Sie nimmt die 'Ermittlungen' ziemlich ernst.

"Wie wäre es mit einem simplen: 'Warum hast du Reana aufgetragen, das Buch zum alten Spielplatz zu bringen?' Da kann er sich um keine Antwort herummogeln."
Reana wirkt bei meinem Vorschlag nur semi-begeistert.
"Das werden wir fragen, ja. Aber er wird mit Sicherheit nicht ehrlich antworten. Du kennst ihn gut, würdest erkennen, wenn er lügt?"
Sie wechselt ihre Sitzposition. Ihre Beine zieht sie aus dem Schneidersitz an ihre Brust heran und stützt ihr Kinn auf den Knien ab.
"Ich denke schon. Außer er wusste seine Ausrede schon, als er dir das Buch gegeben hat, dann hat er die Antwort wahrscheinlich bis jetzt perfektioniert, schließlich muss er mindestens nach gestern mit Fragen rechnen."
Reana wirkt enttäuscht, sie hat sich wohl mehr erhofft.
"Und was, wenn es keine Ausrede gibt?" Ihre Stimme hat einen hoffnungsvollen Ton angenommen. Offenbar will sie nicht glauben, dass wir aus ihm nichts herausbekommen könnten. Reana bekommt mit ihren Kalkulationen fast immer, was sie möchte, ich habe es selten miterlebt, dass das nicht der Fall war.

"Ich schlage vor, dass wir abwarten. Die Fragen ergeben sich dann von allein. Egal, ob wir uns vorbereiten oder nicht, irgendwas werden wir schon aus ihm herausbekommen."
Ich klinge in meinen Ohren ein bisschen zu optimistisch, denn ich bin nicht zu einhundert Prozent zweifelsfrei, ob Val uns wirklich antworten wird.
"Bist du dir da ganz sicher?" Reana scheint den gleichen Gedanken gehabt zu haben, ihre Stimme ist unschlüssiger denn je.
Ist das jetzt eine rhetorische Frage? Sollte ich, selbst wenn es keine solche Frage ist, darauf antworten? Ist keine Antwort nicht auch eine? Hier wäre sie nämlich ein fett gedrucktes Nein.

"Ist jetzt auch egal, wir müssen los, um Valentin abzupassen." Reana's Stimme durchschneidet meine Überlegungen, zerfetzt sie regelrecht. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir zudem, dass sie recht hat. Val hat zwar erst in elf Minuten Schluss, aber wenn wir jetzt losgehen sind wir pünktlich da. Dort müssen wir noch ein wenig warten, aber wir können ihn ganz bestimmt zur Seite nehmen.
"Okay, lass uns runter gehen."
Reana nickt und erhebt sich leicht schwerfällig von meinem Boden.
"Sto invecchiando! Und ich bin doch erst siebzehn!", jammert sie. Ich kann daraufhin nur lachen. Mit siebzehn und sich alt nennen! Was ist sie denn mit siebzig?
Auf mein Gelächter hin kichert sie auch und schenkt mir nicht einmal einen bösen Blick, wie üblich. Es ist ungewohnt, Reana nicht auszulachen, sondern mit ihr zu lachen. Es ist ungewohnt, mit ihr im selben Raum sein zu können und dann auch noch miteinander zu sprechen. Zwischen uns hat sich seit gestern merklich etwas geändert.
Eigentlich ist Reana also gar nicht so anstrengend und laut wie ich noch vor zwei Wochen vor meiner Mamma behauptet habe, sie ist sogar ganz nett. Zumindest solange wir miteinander klar kommen.

Auf der letzten Treppenstufe kommt uns meine Zwillingsschwester entgegen.
"Huh? Was macht ihr denn hier?"
"Also, sorellina, falls du es noch nicht gemerkt hast, ich wohne seit siebzehn Jahren hier."
"Jaja, ich meinte: Was macht Reana hier, mit dir?"
"Nun, Am, eure Methode gestern hat funktioniert. Wir sind gerade dabei, uns einander anzunähern und uns nicht mehr die Köpfe mit Blicken einzuschlagen", mischt sich auch Reana in das kurze Gespräch ein.
"Cool. Oh, wartet, ich lass' euch durch, ich hab' sowieso noch was in der Küche vergessen." Und schon ist Ambra weg, ich höre nur noch leise geflüsterte Worte der Freude.
Ist es wirklich so toll, dass Reana und ich uns seit gestern unterhalten können? Für meine Schwester schon, sie saß ja zwischen den Stühlen. Reana oder ich, ihr Zwillingsbruder? Die Frage hat sie sich ab sofort hoffentlich nicht mehr so oft zu stellen, wir können unsere Diskussionen ohne Ambra klären.

Missing the Book | ✔️Where stories live. Discover now