7 - Sieben Minuten in der Hölle und noch einige Weitere dort

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Als ich am nächsten Abend die Tür öffnen soll, wünsche ich mir, ich hätte gestern Abend richtig gestreikt oder wäre heute einfach gegangen

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Als ich am nächsten Abend die Tür öffnen soll, wünsche ich mir, ich hätte gestern Abend richtig gestreikt oder wäre heute einfach gegangen.
Wir bekommen Besuch. Zum Abendessen. Von Gabriella, Hettore und Reana. Mal wieder.

"Kommt rein. Wie schön, dich zu sehen, pupetta", begrüße ich sie und pflastere mir mein sympathischstes Lächeln auf mein Gesicht. Immer schön nett wirken und vor allem nichts durchblicken lassen.

"Pupetta, ernsthaft? Sind wir wieder zwölf oder warum nennst du mich so?" Reana schaut mich mit diesem Blick an. Dieser ganz spezielle Blick, der mich als Verrückten abstempelt. Dieser Blick, der fragt, ob ich vielleicht schon mal bei einem Psychologen vorbeigeschaut habe.
"Nein, sind wir nicht, aber der Name passt einfach so gut zu dir, pupetta", grinse ich und füge nach kurzer Zeit noch an: "Ach, und außerdem: So chi sei, pupetta."
Der erstaunte Ausdruck, der nun ihr Gesicht ziert, ist legendär.

Reana stolziert an mir vorbei ins Wohnzimmer, ohne noch ein weiteres Wort mit mir zu wechseln. Ich habe jetzt schon keine Nerven mehr.
Wenn diese Essen zur Gewohnheit werden und die Pappalardo's uns einmal in der Woche beehren, dann kann mich Reana durchaus mit ihrem ganz bestimmten Blick ansehen, denn dann bin ich bald nicht mehr ich selbst. Im negativen Sinne.

Mamma hat wieder viel zu viel gekocht, der Esstisch ist überladen mit Salaten, mit Nudeln, Kartoffeln, Rotkraut und Butterbohnen für den Gulasch und mit Focaccia, typisch italienischem Fladenbrot. Wer soll das denn alles essen?

Will sie uns mästen, um uns anschließend im Ofen zu braten?
Ist Mamma in Wahrheit die kannibalische alte Hexe aus Hänsel und Gretel?

Gabriella und Mamma schnattern bereits wie zwei Freundinnen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, dabei sind es bloß fünf Tage. Wenn sie zwischendurch nicht telefoniert haben.
Hettore und Papà sind ebenfalls in ein Gespräch vertieft und auch Reana und Ambra haben etwas Wichtiges zu besprechen, das sie gerade so laut ausdiskutieren, dass ich mithören kann.

"Du, Am, bist du sicher, dass es Adrin gut geht? Der hat mich so richtig komisch begrüßt."
"Was hat er denn gesagt? So weit ich weiß, ist bei ihm alles okay."
"Na ja, irgendwas von 'Ich weiß, wer du bist.' Also richtig ... äh ... strano."
Als Reana wiedergibt, was ich zu ihr gesagt habe, wirkt sie ehrlich verwirrt, aber vielleicht ist sie auch einfach eine verdammt gute Schauspielerin. Ambra stockt kurz, bevor sie antwortet.
"Wer weiß, er hat manchmal so seine Phasen, da komme ich auch oft nicht mit."
"Aha, wenn du meinst." Reana wirkt sehr skeptisch Ambra's Erwiderung gegenüber. Mir geht es nicht anders, was Ambra über mich gesagt hat, würde ich so nicht bestätigen.

Ambra und Reana setzen ihr Gespräch leise flüsternd fort, ich kann also nicht mehr lauschen. Dafür höre ich Mamma und Gabriella umso deutlicher, wie sie über uns sprechen.
Mamma schwärmt gerade davon, wie lieb Ambra und ich doch sind und wie toll es wäre, wenn Reana und ich uns vertragen, vielleicht würde mehr draus werden, wir wären so ein süßes – Was? Moment, seit wann will Mamma mich verkuppeln?

Hatte Ambra nicht gestern Abend auch so etwas angedeutet?

Als Mamma uns am Esstisch eröffnet hat, dass wir morgen – also heute, besser gesagt jetzt – Besuch bekommen würden, habe ich genervt reagiert. Ich bereue es immer noch, nicht aus vollem Herzen protestiert zu haben. Ambra war der Meinung, mein Verhältnis zu Reana wäre nur kurzzeitig so schlecht und wir würden irgendwann Goldene Hochzeit feiern und unseren Enkelkindern von unseren Differenzen erzählen.
Ha! Dass ich nicht lache! Bevor ich Reana heirate, muss man mich unter Drogen gesetzt, hypnotisiert und mir mit meiner Familie gedroht haben!

Mein Blick schweift zu der Uhr, die auf der kleinen hölzernen Kommode steht. Es sind erst sieben Minuten vergangen. Ich werde hier noch irre! Erst hält Reana mich für verrückt, dann will Mamma mich mit ebendieser verkuppeln und Ambra fand die Idee gestern Abend schon toll. Ich habe eindeutig eine verrückte Familie.
Meine Schwester und meine Mamma wollen mir ein Mädchen andrehen und Papà sitzt daneben und grinst, mio dio!

Auf Mamma's Schwärmereien hin lacht Gabriella nur und grinst ebenfalls.
"Aber Adrin kann Reana doch gar nicht leiden oder habe ich was verpasst?", fragt sie dann doch noch.
"Was nicht ist, kann ja noch werden", entgegnet Mamma daraufhin mit einem geheimnisvollen Lächeln. Gabriella lacht.
"Du planst etwas, ich sehe das, Giulia."
"Vielleicht." Mamma zwinkert und wechselt dann das Thema zu einem ihrer neu entdeckten Rezepte.

Dio, rette mich! Warum wollen alle, dass ich und Reana ein Paar werden und später heiraten? Wenn wir nicht die größten Fans voneinander sind, dann ist das eben so. Nicht alle, die sich nicht leiden können, sind in so einer Enemies-to-Lovers Liebesschnulze gelandet, das will nur leider kaum jemand verstehen.

Noch acht Minuten, dann kann ich gehen, zeigt mir die Uhr an.
Ich habe eine Vereinbarung mit Mamma getroffen, dass ich gehen darf, nachdem alle fertig gegessen haben und ich mich ein wenig an den Gesprächen beteiligt habe.
Fertig mit Essen sind sie schon und ich habe für mich selbst festgelegt, dass ich zur vollen Stunde von hier verschwinde.

In sieben Minuten.
Reana und Ambra haben mittlerweile ernste Mienen auf ihren Gesichtern, offensichtlich diskutieren sie über etwas.
"Ich sagte doch, dass er es nicht ernst mit ihr meinte!"
Wer denn jetzt schon wieder? Warum müssen die beiden ihre Gespräche über irgendwelche Beziehungen immer dann führen, wenn ich dabei bin?

Noch sechs lange Minuten.
"Naja, alle Anzeichen standen dafür, dass Tom Lyssa geglaubt hat."
Ach, die beiden schon wieder, also ging der Streit in der Schule wohl nicht so glimpflich aus und Lyssa hat tatsächlich Schluss gemacht.

Fünf Minuten.
Moment? Wenn sie Schluss gemacht hat, warum hat er es nicht ernst gemeint?
"Und deshalb hat er in der Schule mit Caecilia Speichel ausgetauscht?"
Diese Ausdrucksweise klingt ganz nach meiner Schwester. Ambra kann es nicht leiden, wenn jemand Begriffe wie 'knutschen' oder 'rummachen' verwendet, deshalb ist sie auf 'Speichel austauschen' ausgewichen und benutzt es, wann immer das Thema aufkommt.

Die Hälfte der Zeit ist geschafft, in vier Minuten kann ich dieser Esszimmerhölle entfliehen.
"Offensichtlich kann er einfach nur gut schauspielern. Oder er hat seine Meinung kurzfristig geändert." Reana versucht, nicht zu sehr von ihrem Standpunkt abzuweichen.
Und offensichtlich gelingt ihr das nur geringfügig, schließlich hat sie gerade mindestens eine 100º Wendung hingelegt und sich Ambra angepasst.
Ich kann diese Menschen nicht leiden, die, egal was man sagt, immer auf irgendeine Art zustimmen.

Noch drei Minuten.
"Oder er wollte sie sich warmhalten, du weißt schon, einen auf guten Freund machen, weil er keinen Bock hatte, sich 'ne Neue zu suchen. So ticken Jungs nun mal."
Ist das Ambra's Ernst? Mit Sicherheit handeln einige Teenager in unserem Alter so, aber doch nicht alle! Viele, aber nicht alle.
Ich bin verletzt. Sollte meine Schwester das nicht besser wissen?

In zwei Minuten kann ich mich in mein Zimmer verabschieden und mir ein paar Gedanken über meine Antwort machen. Was soll man denn auch auf so etwas wie Schokolade oder Gummibärchen antworten? Immerhin ist beides super.
"Hm, du hast recht", gibt Reana nach kurzer Zeit brummend zu.
"Ich weiß", Ambra kichert leise und fährt fort, "Wir halten also fest: Tom ist ein Idiot und Lyssa sollte ihm nicht nachtrauern, richtig?"
"Genau so sieht's aus."

Nur noch eine Minute.
Wenn ich jetzt schon aufstehe, fällt das doch nicht auf, oder? Wahrscheinlich niemandem außer Mamma, die mich mit großer Sicherheit aus ihrem Augenwinkel beobachtet, während sie mit Gabriella, Papà und Hettore redet. Vielleicht weiht sie die drei in ihren Plan ein, mich und Reana zu verkuppeln, denn sie sehen alle reichlich amüsiert aus.

Ich bin endlich frei! Die letzte Minute ist geschafft!

Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf.
"Entschuldigt mich, aber ich verabschiede mich. Mamma, das Essen war, wie immer, lecker. Buona notte."
Ich bin gerade dabei, den Raum zu verlassen, da ruft mich Mamma zurück.
"Du bleibst schön hier, Freundchen! Wie war unsere Abmachung?"

Merda! Ich habe gedacht, sie hat nicht gemerkt, dass ich mich nicht in die Gespräche eingebracht habe.

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