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Mein Herz klopfte wie verrückt, nachdem ich schlagartig wach geworden war.

Was für ein heftiger Traum...

Ich konnte gar nicht fassen, was ich mir in der letzten Nacht so alles zusammenfantasiert hatte.

Als ich mir mit den Fingern durch die Haare fuhr und mich dabei aufsetzte, spürte ich, dass ich im Schlaf geschwitzt haben musste, denn meine Schläfen waren feucht.

Und dann erinnerte ich mich plötzlich an die letzten Sekunden des Traumes und erstarrte.

Heilige Scheiße!
Mein Patient hatte mir seinen Namen verraten!

Aber sofort bekam ich riesengroße Zweifel daran, dass dieser auch in Wirklichkeit sein Vorname war.

Wie hätte mein Unterbewusstsein den auch in Erfahrung bringen können? Das war unmöglich.

Ich war mir absolut sicher, dass mein Gehirn mir einfach bloß einen Streich gespielt hatte.
Was ich mich allerdings fragte, war, wie ich auf diesen Namen gekommen war, denn ihn trug nicht gerade jeder Zweite in Amerika und ich kannte niemanden, der genauso hieß. Hmmm...

Neben mir regte sich etwas und mein Patient drehte sich auf die andere Seite - so, dass er mich ansehen konnte. Seine Augen schienen immer noch trüb, wirkten aber im Gegensatz zu gestern etwas lebendiger.

„Hey", sagte ich sanft und begrüßte ihn mit einem Lächeln.
Sofort dachte ich an die wunderschönen Küsse zurück, die wir noch vor einigen Minuten ausgetauscht hatten - allerdings nur in meinem Traum.

Ich hatte schon öfter darüber nachgedacht, ob wir uns noch einmal küssen würden, oder, ob ihn die neuen Erkenntnisse über seine Vergangenheit so aus der Bahn geworfen hatten, dass ein Kuss mit mir das Letzte sein würde, an das er denken konnte.

„Morgen", antwortete er mit rauer Stimme, die mir eine Gänsehaut auf meine Arme zauberte und mich deshalb die Bettdecke wieder ein Stück höher ziehen ließ.

Auch er setzte sich dann auf und rieb sich seine Augen.

Seine störrischste Welle hing ihm mal wieder in die Stirn und ragte ihm bereits bis zwischen seine Brauen. Sie war wirklich lang geworden und ich hatte den Eindruck, sie kringelte sich mit jedem Tag etwas mehr.

Durch seine dichten Wimpern schielte er nach oben und begann, sie sich aus dem Gesicht zu pusten, doch das klappte auch beim zweiten Versuch nicht.

Ich schmunzelte.

Ohne großartig darüber nachzudenken streckte ich meine Hand aus und strich sie ihm zur Seite.

„Danke", sagte er schief grinsend, doch in seinen Augen, die mir in diesem Moment wie ein Spiegel seiner Seele erschienen, konnte ich erkennen, dass er es nur halb so glücklich gemeint, wie er es gesagt hatte.

Und da wurde mir bewusst, dass er anscheinend wirklich andere Dinge im Kopf hatte als mich und das musste ich einfach akzeptieren.

-

Nach dem spartanischen Frühstück hatten wir uns mit zwei Tassen Tee nach draußen vor die Lagerhalle gesetzt und einige der letzten warmen Sonnenstrahlen des Herbstes auf der Haut genossen.

Ich fragte mich, ob ich ihm erzählen sollte, dass ich von „seinem Namen" geträumt hatte, oder es besser bleiben ließ.

Bisher hatte ich mich auch noch nicht getraut meinen Patienten zu fragen wie es ihm ging oder was er über die Dinge dachte, die er am Tag zuvor erfahren hatte. Ich hoffte sehr, er würde es von sich aus ansprechen und mir seine Emotionen anvertrauen, wenn er soweit war. Keinesfalls wollte ich, dass er sich in irgendeiner Art und Weise von mir bedrängt fühlte.

Doch wir starrten bloß hinaus in die Natur und ließen stumm die Zeit verstreichen.


„Am liebsten würde ich mich einfach stellen", platzte es dann auf einmal und ohne Vorwarnung aus ihm heraus.

Stocksteif saß ich da und konnte meinen Ohren nicht trauen. Das hatte er doch nicht ernst gemeint!

Er begann sich zu erklären.

„Ich habe so langsam keine Kraft mehr. Ich... ich erfahre jeden Tag neue furchtbare Dinge über mich und mein Leben und darüber, was für eine herbe Enttäuschung ich für meine Familie bin. Ich fühle mich so... so ausgelaugt und kaputt. Seelisch kaputt. Ich will einfach nur, dass es endlich aufhört."

Ohne auch nur zu blinzeln gaffte ich ihn an.

Obwohl ich verstehen konnte, wie sehr ihn diese Situation belastete, wie durcheinander es in seinem Kopf aussehen musste, wie hilflos und verlassen er sich fühlte... das durfte er einfach nicht. Ich wusste, ich musste nun alles tun, um ihn davon abzuhalten, denn ich war mir sicher, es wäre der falsche Weg.

Ich legte meine Hand an seine Wange.

„Mir bricht es das Herz, dich das sagen zu hören, obwohl ich seit Tagen spüre, dass es dir - nach allem was du erfahren musstest - so schlecht geht.
Aber... wir können jetzt nicht aufgeben. Wir sind so weit gekommen, haben so viel erfahren und werden es sicher bald schaffen, die ganze Sache aufzuklären. Bitte, gib uns noch ein bisschen Zeit. Wir können es nicht riskieren, dass wir jetzt, mit diesem Halbwissen zur Polizei gehen und du von den korrupten Beamten für etwas, was du nicht getan hast, weggesperrt wirst.
Ich meine, ja... vielleicht bist du kein unbeschriebenes Blatt und auch nicht unschuldig, aber vielleicht würdest du für etwas bestraft, was ein anderer getan hat. Denk doch nur mal an die Männer in schwarz zurück, die uns mit dem Van verfolgt haben. Sie schienen ja auch vor Connors Haus gewartet zu haben. Auch den Polizisten, der von ihnen den Umschlag bekommen hat, darfst du nicht vergessen.
An der Sache ist etwas faul und das müssen wir aufklären."

Nach meinem langen Monolog hielt ich kurz inne und seufzte, ehe ich wieder ansetzte.

„Mein Gefühl sagt mir, dass das noch nicht alles gewesen ist und dass wir die Hoffnung noch nicht aufgeben dürfen.
Ich frage dich jetzt, so wie du mich, kurz bevor ich auf der Kreuzung über rot brettern musste und vor dem tonnenschweren LKW um die Kurve ziehen sollte: Vertraust du mir?"

Mit großen, erwartungsvollen Augen blickte ich meinen Patienten an und hoffte so sehr, er würde es mir bestätigen. Denn falls nicht, würde eine Welt für mich zusammenbrechen und alles, was zwischen uns war und für das wir so gekämpft hatten, würde sich in Sekunden in Luft auflösen und verpuffen.

Er musste mir einfach vertrauen. Ich spürte tief in mir, dass wir der Aufklärung so nah waren.

Dann hob er den Kopf und teilte seine Lippen.

„Ja. Ja Lynn, ich vertraue dir. Und das war schon von der ersten Sekunde an der Fall. Schon das erste Mal als ich dich gesehen habe, wusste ich, dass ich das kann. Ich habe gespürt, dass du die Einzige bist, die mir das Gefühl gibt, es zu können. Und das, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, wer ich selbst überhaupt war.
Ich möchte, dass wir zum Ort der vierten Koordinaten fahren und dann hoffentlich alle Antworten bekommen. Aber versprich mir bitte eins..."

Mit angehaltenem Atem nickte ich hektisch. Alles, alles um was er mich bitten würde, würde ich ihm versprechen.

„... wenn ich schuldig bin - egal in welchem Ausmaß - fahren wir sofort zum nächsten Polizeirevier und ich stelle mich. Und dann tue ich, um was Connor mich gebeten hat: Zu meinen Taten stehen und die Verantwortung für alles zu übernehmen.

Auch wenn das heißt, dass ich für lange Zeit ins Gefängnis wandern werde."

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Criminal tension - Wie ich einem Straftäter verfielWo Geschichten leben. Entdecke jetzt