Kapitel 22

27 4 0
                                    

CARLA

Ich war gestern Abend noch vor Einbruch der Dunkelheit in Medellín angekommen und musste zugeben, dass diese Stadt riesiger war als alles, was ich bisher gesehen hatte! Die vielen Stimmen um mich herum bereiteten mir Kopfschmerzen, auch die ganzen Gedanken, aber ich versuchte sie zu ignorieren und ritt weiter durch die große, belebte Hauptstraße, die mit schönen, alten Häusern gesäumt war. Trotz der doch recht späten Stunde waren noch eine Menge Leute draußen und viele Händler verkauften noch einige Sachen, aber ich ignorierte ihre lockenden Rufe. Ich musste schließlich Lucas Haus finden! Ich fragte mich nach seiner Adresse durch, die ich dank seinen Briefen kannte und wurde durch die ganze Stadt geschickt, bis ich in eine Gegend mit großen Häusern und weiten Gärten kam. Vor einer weißen Villa mit hohen Säulen und einem dicken Eisentor blieb ich stehen. Hier wohnte Luca?! War er reich?! Wieso hatte er mir davon nichts erzählt?! Ich war erstaunt über das riesige Haus und den großen Garten mit einem Brunnen und einem Wasserbecken und saß ab. Ich konnte nicht glauben, dass Luca hier wohnte. Er war reich und hatte mir nichts gesagt! Wozu brauchte er denn einen Job, wenn er so wohnte? Unsicher ging ich auf das Tor zu und betätigte eine kleine Kordel, an der ich zog, worauf ich ein leises Glockenspiel hörte. Wo kam das denn her? Ich sah mich verwirrt um, konnte aber keine Glocken sehen. Wie funktionierte das hier? Das Tor ging einige Sekunden später auf, also führte ich mein Pferd durch das Tor und lief zur Haustür des Hauses hinauf. Luca öffnete mir die Tür, worauf ich ihn anstrahlte. Wie sehr hatte ich ihn doch vermisst! Er sah mich verwirrt an und lächelte dann.
"Carla?", fragte er nach, ich nickte und fiel ihm stürmisch um den Hals.
"Ja! Ich konnte nicht mehr länger ohne dich sein! Es tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe, aber ich konnte nicht länger warten! Ich hoffe, ich störe dich nicht!", antwortete ich und ließ ihn langsam wieder los.
"Du... nein, tust du nicht! Wir sind gerade beim Abendessen, komm ruhig rein, du bist sicher auch hungrig! Lass dein Pferd hier, es wird sich schon darum gekümmert", erwiderte er, ich nickte.
"Ist gut, aber von wem? Und wieso hast du mir nie gesagt, dass du reich bist?", fragte ich neugierig nach, während er mich reinließ und die Tür schloss.
"Erstens: Das Pferd wird von unserem Stalljungen versorgt, er wird es früher oder später schon bemerken. Zweitens: Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht wollte, dass du mich nur magst, weil meine Familie Geld hat", erklärte er, ich nickte und lächelte ihn an.
"Das verstehe ich, amor", erwiderte ich, während er mich durch eine marmorierte Eingangshalle mit tiefem Teppich führte, bevor wir in ein riesiges Esszimmer kamen, in dem eine erwachsene Frau, ein erwachsener Mann und zwei Mädchen jeweils im Alter von dreizehn und zehn Jahren saßen. Das mussten wohl Lucas kleine Schwestern Lucía und Andrea sein. Ich sah die beiden an und bemerkte dabei eine Narbe am Arm von einem der Mädchen. Könnte das von dem Hausbrand sein? Aber dieses Haus sah nicht so aus, als wäre es mal in Brand gesteckt gewesen!
"Ähm... Mamá, Papá, hermanitas? Das ist Carla, meine Freundin", stellte Luca mich vor, worauf mich alle ansahen. "Sie hat mich überraschend besucht." Seine Familie sah mich an, ich winkte schüchtern.
"Hola, es tut mir leid, Sie beim Essen zu stören", sagte ich verlegen, worauf Lucas Mutter zu lächeln begann.
"Es freut uns, dich endlich mal kennenzulernen, Luca hat schon eine Menge von dir erzählt. Ich bin Anna, das ist mein Mann Pablo und das sind unsere Töchter Lucía und Andrea", erwiderte sie. "Du kannst uns ruhig duzen, Liebes."
"Gracias, das ist sehr freundlich", erwiderte ich, bevor ich mich mit Luca an den Tisch setzte. "Ihr habt übrigens ein sehr schönes Haus."
"Danke, Carla", meinte Pablo.
"Bist du die Carla, die Gedanken lesen kann?", fragte Andrea, Lucas jüngste Schwester, aufgeregt nach.
"Ja, genau", antwortete ich ihr, worauf sie zu grinsen begann.
"Wie geht das? Und kannst du es mir beibringen?", fragte sie aufgeregt nach, ich lachte und schüttelte den Kopf.
"Leider nein, tut mir leid. Es ist meine Gabe, die ich von unserem Wunder geschenkt bekommen habe und die kann ich leider keinem beibringen. Ich weiß auch nicht wirklich, wie sie funktioniert, aber ich kann alle Gedanken zu jeder Zeit hören. Manchmal ist das zwar ein bisschen anstrengend, aber ich hab gelernt es etwas zu ignorieren", erklärte ich ihr.
"Und was denke ich gerade?", fragte sie aufgeregt nach und schloss die Augen.
Morgen muss ich dringend die Katze von der Straße bürsten! Sie hat es mal wieder nötig und Futter könnte sie auch gebrauchen!
"Du hast gedacht, dass du die Katze von der Straße bürsten und ihr etwas zu essen geben musst", antwortete ich ihr, sie nickte begeistert.
"Das stimmt!", rief sie aufgeregt, ihre Mutter lächelte sie an und nahm ihre Hand.
"Beruhige dich, amor! Überfall Carla doch nicht gleich so!", mahnte sie und sah mich entschuldigend an. "Es tut mir leid, Liebes."
"Schon in Ordnung, das macht mir nichts", wehrte ich schnell ab.
"Wissen deine Eltern eigentlich, dass du hier bist?", fragte Luca da nach. "Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie dich einfach haben gehen lassen." Ich biss mir unsicher auf die Lippe und strich mir eine Strähne zurück.
"Na ja, das... haben sie auch nicht. Ich bin einfach hierher gekommen, ohne ihnen etwas zu sagen, weil sie es mir sonst einfach verboten hätten. Aber keine Sorge, ich habe ihnen einen Zettel dagelassen und ich bleibe auch nur übers Wochenende", erklärte ich, worauf er mich erschrocken ansah.
"Du bist einfach weggelaufen?!", fragte er fassungslos nach.
"Na ja, nicht ganz, ich hab ihnen ja einen Zettel dagelassen! Aber ich konnte nicht mehr länger ohne dich sein, Luca! Kannst du das nicht verstehen?", erwiderte ich, er seufzte.
"Doch, natürlich, mir ging es ja genauso, aber deine Eltern machen sich bestimmt große Sorgen und deine Abuela wird auch nicht gerade begeistert sein!", sagte er, seine Mutter sah mich an.
"Da bin ich mir auch sicher, Liebes. Schreib deinen Eltern doch bitte einen Brief, damit sie morgen früh sofort Bescheid wissen! Sie müssen sich keine Sorgen machen, wir bringen dich sicher wieder nach Hause", bat sie, ich nickte.
"Ja, gut, das werde ich machen", stimmte ich zu.
"Sehr gut. Dann soll Luca dir das Gästezimmer zeigen", meinte Pablo, Luca nickte und stand auf.
"Komm, amor, ich zeige dir das Haus", erwiderte er, also gingen wir die Treppe nach oben. Er zeigte mir die Zimmer seiner Eltern, seiner Schwestern und sein eigenes, das direkt neben meinem gelegen war. Das Bad war direkt nebenan und auch hier oben war alles so edel eingerichtet, dass es mich beinahe einschüchterte.
"Wie könnt ihr euch das alles hier leisten?", fragte ich und berührte vorsichtig eine Kristallvase, die auf einer Kommode stand.
"Ich hatte dir doch gesagt, dass meine Mutter Tanzlehrerin ist, nicht wahr? Ihr gehört auch die beste Tanzschule in ganz Medellín und sie verdient gutes Geld. Und mein Vater ist Jurist", erklärte er und zuckte die Schultern. "Und ich bald Restaurantleiter!" Ich lachte.
"Und du wirst der beste Restaurantleiter sein, den es gibt!", grinste ich und legte ihm meine Arme um die Schultern, um ihn zu küssen. "Das weiß ich. Es ist fast, als hätte mein Vater es vorhergesehen!"

Ich brauche dich, Bruno 4 - Die verlorene Tochter - Carlas Suche Where stories live. Discover now