Kapitel 12

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CARLA

Sobald es dunkel wurde, war es soweit. Die Zeremonie begann. Ich stand mit dem Rest meiner Familie auf der oberen Etage, während die Zwillinge unten an der Tür standen. Estrella wirkte etwas nervös und klammerte sich beinahe ängstlich an Lunas Arm, die allerdings total aufgeregt und selbstsicher schien. Sie hielt die Hand ihrer kleinen Schwester fest und lächelte sie an. Unsicher sah Estrella sich um, worauf auch ich ihr ein ermutigendes Lächeln schenkte, in der Hoffnung, dass sie es überhaupt sah. Der Rest des Dorfes hatte wieder eine Gasse gebildet, Luca stand am unteren Ende der Treppe und lächelte meine Schwestern ebenfalls ermutigend an. Er war wirklich eine tolle Unterstützung. Estrellas unsicherer Blick wurde langsam mutiger und als Casita das Licht auf die Kleinen richtete, liefen sie langsam vorwärts. Luna wirkte stolz dabei und zog Estrella voran, die etwas unsicher hinter ihr herging. Sie kamen zur Treppe und liefen sie hinauf, bevor sie vor Abuela stehen blieben. Diese hielt ihnen unsere magische Kerze hin, die die beiden berührten. Sie sahen toll aus in den weißen Kleidern, die Papá für sie gemacht hatte. Sie waren ganz unterschiedlich. Lunas Kleid hatte verspielte, goldenen Details und Fäden und einige Rüschen, während Estrellas Kleid sehr schlicht mit nur wenigen Goldfäden war. Die Kinder gingen jeweils auf ihre Tür zu und berührten dann die Türknäufe. Für einen winzigen Moment schien nichts zu passieren, doch dann leuchteten die Türen grell auf und Bilder meiner Schwestern erschienen darauf. Lunas Gravur sah so aus, als würde Luna darauf schweben, da sie einige Zentimeter über den Boden schwebte und die Arme zu den Seiten ausgestreckt hatte. Auf Estrellas Tür war sie zu sehen, hinter und vor ihr waren verschiedene Tieren in verschiedenen Größen zu sehen. Was sollten diese Bilder denn bedeuten? Die beiden hatten Gaben - offensichtlich auch ganz unterschiedliche - aber welche waren es? Ich sah meine Schwestern neugierig an, deren Gedanken sich beinahe schon überschlugen. Kein Wunder! Luna streckte ihre Arme zu den Seiten aus, wie auf dem Bild, und wie von Zauberhand schwebte sie in die Luft. Sie konnte fliegen! Wie toll war das denn?! Sie lachte und flog einige Zentimeter in die Luft, bevor sie wieder landete. Sie sah Estrella neugierig an, die kurz die Augen schloss, um sich zu konzentrieren. Nur wenige Sekunden später verwandelte sie sich in einen Jaguar. Sie konnte sich in Tiere verwandeln?! Das war wirklich unglaublich! Beide Gaben waren unglaublich hilfreich für das Dorf - im Gegensatz zu meiner! Luna lachte begeistert, bevor sie auf Estrellas Rücken sprang und die beiden durch den oberen Stock rannten. Ich musste unwillkürlich lachen. Die beiden blieben eben Chaoten! Selbst während ihrer Gabenzeremonie konnten sie nur ans Spielen denken! Während Abuela verkündete, dass wir neue Gaben hatten und die Menge zu jubeln begann, konnten Mamá, Papá und ich uns kein Lachen verkneifen. Die Zwillinge kamen vor uns zum Stehen und als Estrella sich zurückverwandelte, lag Luna auf ihr und beide blieben lachend auf dem Boden sitzen. Sie schienen also froh mit ihren Gaben zu sein! Wenigstens das! Ich half den beiden wieder auf die Füße.
"Na kommt, lasst uns mal eure Zimmer ansehen", meinte ich neugierig, die beiden nickten aufgeregt und öffneten ihre Türen. Estrellas Zimmer sah aus wie ein Regenwald, in dem sie sich wahrscheinlich in jedes erdenkliche Tier verwandeln und so an die verschiedenen Plätze gelangen konnte. Lunas Zimmer hingegen erinnerte etwas an meins. Sie hatte einige Ebenen, die allerdings in der Luft schwebten und sich nicht kontrollieren ließen, sodass Luna zu ihnen fliegen musste. Abgesehen von ihrem Bett, war alles auf den fliegenden Ebenen, sodass sie ihre Gabe gut nutzen musste, um hier voranzukommen. Casita war wirklich kreativ, was das gestalten von Zimmer anging! Neugierig drängte sich nach und nach das ganze Dorf in die Zimmer, um sie sich neugierig anzusehen und auch Luca kam zu uns. Er hob die Zwillinge nacheinander hoch und wirbelte sie durch die Luft, während er sie zu ihren neuen Gaben beglückwünschte. Die beiden lachten und umarmten ihn, bevor sie zu Abuela rannten. Ich ging zu Luca und lächelte ihn an.
"Schön, dass du gekommen bist", sagte ich. "Das bedeutet meinen Schwestern wirklich viel. Und noch mal danke, dass du Estrella heute Mittag Mut gemacht hast." Er erwiderte das Lächeln und nahm meine Hand.
"Gerne doch, ich sehe Kinder nur ungern traurig", wandte er schnell ein und zuckte die Schultern. "Die zwei haben wirklich tolle Gaben bekommen! Ich bin etwas neidisch, um ehrlich zu sein."
"Ich auch. Ihre Gaben sind wenigstens nützlich, im Gegensatz zu meiner", gab ich zu.
"Deine Gabe ist auch toll, stell dich nicht unter deinen Scheffel!", widersprach er mir schnell und drückte meine Hand. "Und ich finde sie unglaublich toll, das weißt du!"
"Ja, das weiß ich. Du denkst ja auch immer daran und ich höre das", erwiderte ich und war zum ersten Mal froh darüber, Gedanken lesen zu können. Dann wusste ich wenigstens, dass er es auch wirklich ernst meinte und nicht log!
"Dein tío spielt gerade auf dem Klavier. Hättest du Lust, mit mir zu tanzen?", fragte Luca, ich nickte schnell.
"Ja, natürlich! Gerne!", stimmte ich begeistert zu. "Wollen wir aber unten im Hof tanzen? Da ist etwas mehr Platz."
"Können wir gerne machen", willigte er ein, also gingen wir zusammen nach unten in den Hof. Er war wunderbar leer, weil alle sich in den Zimmern der Zwillinge aufhielten, um sie zu bestaunen und die beiden zu beglückwünschen. Luca nahm meine eine Hand und legte mir die andere um die Taille, während ich einen Arm um seine Schulter legte und wir zu tío Augustíns Musik zu tanzen begannen, die er oben spielte. Er war ein wirklich begabter Musiker, das musste man ihm lassen. Ich sah nur Luca an und konzentrierte mich auf das Tanzen, weil es mir eine Menge Spaß machte, mit ihm Zeit zu verbringen. Und tanzen konnte er auch wirklich unglaublich gut.
"Wo hast du eigentlich so gut tanzen gelernt?", fragte ich ihn neugierig.
"In Medellín bei meiner Mutter. Sie hat dort eine sehr angesehene Tanzschule und da konnte ich nicht anders, als tanzen lernen zu müssen!", antwortete er und lachte. "Es war aber nicht immer ganz einfach, meine Mutter war wirklich sehr streng mit mir."
"Aber es hat sich gelohnt, du machst das wirklich sehr gut", erwiderte ich und lächelte ihn an. "Ich hab noch nie einen Jungen getroffen, der so gut tanzen kann."
"Danke, du tanzt aber auch sehr gut. Das hast du wahrscheinlich auch von deiner Mutter gelernt, oder?", hakte er nach, ich nickte.
"Ja, von Mamá und meinen tías", antwortete ich ihm. Er nickte nur und wir blieben still, weil keiner so wirklich wusste, was er als nächstes sagen sollte. Also tanzten wir einfach eng miteinander und hielten uns fest, bis tío Augustín oben das Lied beendete. Luca blieb stehen und sah mich an und selbst, als das nächste Lied begann, bewegte er sich nicht. Er sah mich einfach nur an und bevor ich etwas sagen konnte, küsste er mich. Ich war davon kurz verwirrt, aber erwiderte seinen Kuss dann, bis wir beide keine Luft mehr bekamen und uns voneinander lösten.
"Ich weiß, das überfällt dich vielleicht, aber ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, Carla Madrigal", flüsterte er mir leise zu, ich lächelte.
"Es überfällt mich nicht, Luca, es freut mich. Ich habe mich nämlich auch in dich verliebt." Er lachte und gab mir noch einen Kuss.
"Du bist magisch, Carla! Und ich lasse dich nie wieder los, versprochen! Dafür bist du mir zu wichtig! Und das, obwohl ich dich gerade mal ein paar Tage lang kenne!"
"Das geht mir auch so, Luca. Das geht mir auch so."

Ich brauche dich, Bruno 4 - Die verlorene Tochter - Carlas Suche Where stories live. Discover now