Kapitel 3

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CARLA

Nach dem Abendessen setzte ich mich draußen auf den Rasen und sah der Sonne beim Untergehen zu. Früher hatte ich das mit Papá zusammen gemacht, aber da er im Moment an den Kleidern für die Zwillinge arbeitete, saß ich alleine draußen und beobachete die Sonne. Sie kam schon gefährlich nah an den Berg und würde bald untergehen. Und dann würden die Sterne rauskommen - zumindest, wenn tía Pepa keine schlechte Laune bekam und Wolken aufzogen. Aber weswegen sollte sie schlechte Laune haben? Der Tag war ja eigentlich ganz gut gewesen - abgesehen von der Sache mit der Giftschlange, aber das hatte tía Pepa ja ohnehin nicht mitbekommen. Da ging die Tür hinter mir auf und als ich mich umdrehte, kamen Estrella und Luna in ihren Schlafanzügen raus. Sie setzten sich an meine Seite und lehnten sich an mir an.
"Müsste Mamá euch nicht eigentlich ins Bett bringen, ihr kleinen Schlangenbeschwörer?", fragte ich grinsend nach und nahm meine Schwestern in den Arm. Nachdem Estebans Stimme aus meinem Kopf verschwunden war, hatte ich mich den Zwillingen recht schnell angenähert und mich auch sehr viel um sie gekümmert. Ich war froh, endlich Kontrolle über meine Gabe zu haben und sie nicht mehr fürchten zu müssen, denn das war wirklich eine schreckliche Zeit gewesen. Die Leute im Dorf fanden mich zwar immer noch seltsam, aber ich hatte gelernt darüberzustehen und mir nichts daraus zu machen. Ich war wie ich war, ob mit Narbe oder ohne war mir egal. Und wenn die Leute meine Hilfe nicht wollten, war es mir auch recht. Dann hatte ich wenigstens Zeit für mich. Abuela fand es zwar nicht so toll, dass ich den Bewohnern nur selten half, aber ich konnte nichts dagegen tun. Wenn sie mich seltsam oder gruselig fanden und meine Hilfe nicht wollten, konnte ich auch nichts tun! Ich war eben nicht perfekt wie Isabela oder so stark wie Luisa, ich war eben keine allzu große Hilfe! Dafür versuchte ich mich um die Kinder zu kümmern und das war doch auch etwas, oder?
"Ja, aber wir können noch nicht schlafen! Wir sind noch total wach!", antwortete Luna aufgeregt. "Erzählst du uns noch eine Geschichte? Du kannst das immer so gut!"
"Jetzt?", fragte ich nach, die beiden nickten.
"Ja, bitte!", flehte Estrella und setzte ihren süßesten Blick auf, worauf ich lachte.
"Na gut, na gut, überredet, ihr bekommt eure Geschichte", willigte ich ein. Die beiden kuschelten sich an meine Seite und legten ihre Köpfe in meinen Schoß, worauf ich ihnen über die weichen, lockigen, schwarzen Haare strich. "Bereit?"
"Ja, wir liegen gemütlich!", stimmte Luna zu, also begann ich zu erzählen.
"Also, tief im Wald wohnte einmal eine alte Hexe. Sie war mächtig und konnte mit nur einem Wink ihres Zauberstabes jeden verzaubern! Sie war sehr gefürchtet und keiner traute sich, ihr zu nahe zu kommen. Jeder hatte Angst, in ein Tier oder sogar zu Stein verwandelt zu werden! Aber im Wald gab es die besten Beeren und die liebten die Dorfbewohner über alles. Aber wie nur sollten sie an die Beeren kommen, ohne von der Hexe entdeckt zu werden, die direkt neben den Beerenbüschen ihr Haus hatte? Keiner traute sich mehr in den Wald und die Bewohner gaben die Hoffnung auf ihre liebsten Beeren schon auf, aber da kamen die zwei Prinzessinnen des Dorfes ihnen zur Hilfe. Sie hatten von der bösen Hexe gehört und wollten, dass ihre Bewohner wieder glücklich und zufrieden leben und ihre Beeren essen konnten. Also machten sie sich auf den Weg in den Wald, um nach der Hexe zu suchen. Sie fanden ihr großes Haus genau in der Mitte des Waldes, bei den Beerenbüschen und direkt am Fluss gelegen. Die Hexe war nirgends zu sehen und so nahmen sich die Prinzessinnen eine handvoll Beeren. Doch kaum, dass sie die leckeren Beeren gepflückt hatten, erschien die böse Hexe vor ihnen! Sie wollte die Prinzessinnen in Stein verwandeln, weil sie die Beeren klauten, aber die Prinzessinnen waren darauf vorbereitet. Als die Hexe ihren Zauberstab hervorholte und ihn auf die Prinzessinnen richtete, holten diese einen ihrer Spiegel heraus, die sie immer bei sich trugen. Als der Zauber auf den Spiegel traf, wurde er zurückgeworfen und die Hexe wurde selbst getroffen. Vor Schreck schrie sie auf und ließ ihren Stab fallen, während sie sich in eine hässliche Skulptur aus Stein verwandelte. Die Prinzesinnen hoben den Stab auf und zerbrachen ihn, damit sich der böse Spuk nicht noch einmal wiederholen konnte, bevor sie zurück ins Dorf gingen, um ihren Untertanen vom Untergang der Hexe zu erzählen. Dieser wurde mit einem großen Fest gefeiert, zu dem es Beeren in Hülle und Fülle gab! Die mutigen Prinzessinnen hatten ihr Dorf gerettet und lebten glücklich und zufrieden, bis an ihr Lebensende." Ich sah meine kleinen Schwestern an, die die Augen geschlossen hatten und offensichtlich auf meinem Schoß eingeschlafen waren. So viel dazu, dass sie noch nicht müde waren! Es brauchte nur eine kurze Geschichte und sie schliefen sofort ein! Ich lächelte die beiden an und strich ihnen über die Haare, bevor ich ihnen jeweils einen Kuss auf die Stirn gab. "Schlaft gut, mis hermanas queridas." Da ging die Tür hinter mir abermals auf und Mamá kam nach draußen. Als sie sah, dass Estrella und Luna auf meinem Schoß lagen und schliefen, lächelte sie und kam zu mir.
"Hast du die beiden endlich zum Einschlafen gebracht, Carlita?", fragte sie nach, ich nickte.
"Ja, und das sogar zu einer sehr frühen Zeit! Soll ich dir helfen, die zwei nach oben ins Bett zu bringen?", antwortete ich, Mamá nickte.
"Ja, das wäre lieb, mi vida", erwiderte sie und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
"Gerne, Mamá." Mamá hob Luna hoch, während ich Estrella hochhob und wir die beiden dann nach oben ins Kinderzimmer trugen. Mirabel saß auch schon auf ihrem Bett und sah uns an, als wir die Zwillinge auf ihren Betten ablegten und fürsorglich zudeckten.
"Schlafen sie?", fragte sie, ich nickte.
"Ja. Und du? Gehst du auch ins Bett?", erwiderte ich leise, um meine Schwestern nicht wieder zu wecken. Mirabel nickte.
"Ja, Mamá hat gesagt, dass es Zeit fürs Bett ist. Ich darf zwar noch wachbleiben, aber ich soll mich schon mal hinlegen", antwortete sie.
"Arbeitet dein tío noch?", fragte Mamá nach, Mirabel nickte.
"Ja, er macht noch ein paar Goldfäden auf die Kleider, aber da kann ich ihm nicht helfen, das kann ich nicht", antwortete sie leise.
"Na gut. Dann schlaf gut, Mirabel", sagte Mamá, ich nickte.
"Ja, gute Nacht. Und lass dich nicht von den Zwillingen ärgern", meinte ich, Mirabel nickte.
"Mach ich nicht. Gute Nacht." Wir verließen das Zimmer und schlossen leise die Tür hinter uns. Wenigstens schliefen die Zwillinge jetzt! Das bedeutete etwas Ruhe und Entspannung. Ich seufzte leise und sah Mamá an.
"Ich setze mich aufs Dach und sehe mir noch den restlichen Sonnenuntergang an, ja? Wenn Papá Lust hat, kann er auch kommen", sagte ich, Mamá nickte und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
"Mach das, mi vida. Viel Spaß und sei vorsichtig beim Klettern", erwiderte sie, ich nickte schnell und kletterte mit Casitas Hilfe auf das große Dach. Dort setzte ich mich gegen Papás Turm, lehnte meinen Rücken an die kühle Wand und beobachtete, wie die Sonne immer mehr hinter dem Berg verschwand. Ich liebte diesen Moment. Er beruhigte mich unglaublich sehr und ich schloss die Augen, während ich die letzten, warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht genoss. Das war die beste Art, um den Abend ausklingen zu lassen!

Ich brauche dich, Bruno 4 - Die verlorene Tochter - Carlas Suche Where stories live. Discover now