Kapitel 1

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CARLA

"Carlita, hast du deine Schwestern gesehen?" Ich ging in die Küche zu meiner Mutter, die gerade mit tía Julieta und tía Pepa etwas Essen zubereitete.
"Nein, wie sollte ich auch? Ich war den ganzen Tag in meinem Zimmer und hab gelesen und die Kleinen rennen wahrscheinlich wieder in der Weltgeschichte rum!", antwortete ich ihr. Meine Schwestern Estrella und Luna waren gerade mal vier, würden aber in wenigen Tagen fünf Jahre alt werden und hatten aufgrund ihres jungen Alters eine Menge Energie. Den ganzen Tag lang rannten sie durch die Gegend und spielten, sodass wir sie meistens suchen mussten, weil sie nie jemandem Bescheid sagten, wenn sie gingen. Es nervte mich zwar, die Kleinen ständig suchen zu müssen, aber immerhin konnte ich ja meine Gabe einsetzen - Gedanken lesen. So waren die beiden wesentlich leichter zu finden.
"Könntest du sie dann bitte suchen? Das Abendessen ist bald fertig", bat Mamá, ich nickte.
"Mach ich, Mamá. Wo ist Papá eigentlich?", fragte ich nach, weil ich meinen Vater schon seit Stunden nicht mehr gesehen hatte. Normalerweise kümmete er sich um die Zwillinge, aber sie waren so stürmisch, dass er (genauso wie ich) schon nach einer Stunde meistens eine lange Verschnaufpause brauchte. Das wunderte mich nicht, mir waren die Zwillinge auch zu wild, um länger als eine Stunde mit ihnen zu spielen. Papá und ich zogen uns lieber zurück und genossen die Stille, während Estrella und Luna eher nach Mamá kamen und nur so vor überschüssiger Energie sprühten! Sie waren dementsprechend auch schwer ins Bett zu bekommen und jeder Abend war eine einzige Herausforderung für denjenigen, der die Kinder ins Bett brachte. Ich könnte es Papá also nicht verübeln, wenn er sich irgendwo versteckte, um seine Ruhe zu haben. Das würde ich auch lieber tun.
"Papá ist in seinem Zimmer und beendet die Kleider deiner Schwestern für die Gabenzeremonie in ein paar Tagen", antwortete Mamá mir. Ah, das war klar. Papá war der begabteste Schneider, den ich kannte und wenn es darum ging, Klamotten zu nähen, konnte ihm keiner etwas vormachen. Er hatte mittlerweile jedem von uns ein Kleid gemacht und wir liebten diese über alles! Mirabel, meine jüngste Cousine, sah ihm ständig über die Schulter und versuchte sodruch das Nähen ebenfalls zu lernen. Sie war aus welchen Gründen auch immer die einzige in der Familie, die keine Gabe erhalten hatte und deswegen versuchte sie ständig alles, was sie tat, zu perfektionieren, um der Familie auf eine andere Weise eine Hilfe zu sein. Sie tat mir leid, weil sie keine Gabe erhalten hatte, aber ich war mir doch sehr sicher, dass die Magie genau wusste, was sie da tat. Es würde einen guten Grund dafür geben.
"Ja, Mira müsste auch bei ihm sein", erwiderte tía Julieta und holte mich damit aus meinen Gedanken. "Könntest du sie bitte auch holen? Wir brauchen hier unten noch ein bisschen Hilfe beim Tisch decken."
"Ja, mach ich", stimmte ich zu und ging die Treppe nach oben. Mein Cousin Camilo kam mir aus seinem Zimmer entgegen. Er hatte die Fähigkeit erhalten, sich in jemand anderen zu verwandeln, wann immer er es wollte und benutzte seine Gabe häufig dafür, um extra Nachtisch zu bekommen, was wir mittlerweile aber natürlich durchschaut hatten. "Hey, Milo, hast du die Zwillinge gesehen?"
"Nein, nicht mehr seit heute Mittag, als sie auf die Palme vor meinem Fenster geklettert sind", antwortete er und zuckte die Schultern.
"Würdest du mir dann bitte helfen, nach ihnen zu suchen?", bat ich, er zuckte wieder die Schultern.
"Ja, kann ich machen. Ich sehe draußen nach", stimmte er entspannt zu und lief die Treppe hinunter, während ich zu Papás Zimmer ging und gegen die Tür klopfte. Ich trat in den hohen Turm und sah Papá an seiner Nähmaschine sitzen, Mira saß auf seinem Schoß und half ihm dabei, ein kleines, weißes Kleid zu machen. Die beiden waren wirklich das perfekte Onkel-Nichte-Duo. Mit keinem verstand Mira sich so gut wie mit Papá und er freute sich darüber, dass es jemanden gab, der seine Leidenschaft fürs Nähen teilte. Mamá und ich waren davon nämlich nicht allzu sehr angetan und die Zwillinge mit ihrem stürmischen Temperament erst recht nicht! Papá und Mira drehten sich zu mir um und sahen mich an, als ich reinkam und zu ihnen ging.
"Hey, Mira, tía Julieta sagt, dass du runterkommen sollst, sie brauchen Hilfe beim Tisch decken", meinte ich, worauf Mira Papá entschuldigend ansah.
"Tut mir leid, ich helfe dir später wieder, tío", sagte sie, er lächelte sie an.
"Kein Problem, Mira, lass dir ruhig Zeit", erwiderte er, also hüpfte sie vom Stuhl und lief nach draußen. Papá sah mich an. "Und was ist mit dir, Carlita?"
"Ich soll die Zwillinge suchen, hab aber keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Also dachte ich, dass ich mal gucke, wie es mit ihren Kleidern so aussieht", antwortete ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich mir die weißen Kleider mit den goldenen Ornamenten und Stickerein darauf ansah. "Die sehen spitze aus, Papá. Du bist wirklich gut darin."
"Danke, mi vida", erwiderte er und lächelte mich an. "Ich glaube, ich hab Estrella und Luna vorhin irgendwo draußen gesehen."
"Ja, Camilo sieht da gerade nach", meinte ich und setzte mich auf sein Bett. "Ich würde mich nur gerne noch etwas vor den kleinen Energiemonstern drücken." Papá lachte.
"Ja, ich weiß, sie haben eine Menge Energie, sie kommen eben sehr nach deiner Mutter. Die hatte auch so eine Energie als Kind, dass sie keiner von irgendwas abhalten konnte!", gab er zu. "Aber nenn die zwei nicht Monster, ja? Mamá würde das nicht mögen." Er wusste genau, dass mein Spitzname für meine Schwestern nicht böse gemeint war, aber Mamá mochte es trotzdem nicht, wenn ich das sagte. Papá war es egal, er wusste ja, dass ich es nicht böse meinte, sondern nur nicht wusste, wie ich die beiden sonst nennen sollte.
"Ich weiß, aber sie sind eben kleine Energiemonster! Ich frage mich wirklich, wo sie diese ganze Energie hernehmen! Laden die sich in der Sonne auf wie eine Schlange und können dann den ganzen Tag lang durch die Gegend hüpfen, oder wie machen sie das? Sie gehen ewig spät ins Bett und stehen am nächsten Morgen trotzdem um fünf Uhr auf, um mir zu sagen, dass ihnen langweilig ist und sie mit mir spielen wollen!", wunderte ich mich und schüttelte den Kopf. "Aber ich würde es wahrscheinlich auch vermissen, wenn es nicht so wäre."
"Das geht mir auch so", stimmte Papá mir zu und stand auf. "Dann komm, lass uns mal nach den kleinen Chaoten sehen." Er zwinkerte mir zu und ich lachte.
"Ja, gute Idee. Lass es nur nicht Mamá hören!", erwiderte ich, also gingen wir zusammen nach draußen, um nach den beiden zu suchen. Camilo kam wieder rein.
"Im Garten sind sie nicht!", sagte er und ging in die Küche. "Ich hol mir was zu essen."
"Es gibt doch aber gleich Abendessen!", wandte ich ein, aber er zuckte nur die Schultern und lief weiter in die Küche. Jetzt blieb es wohl an mir hängen, meine Schwestern zu finden. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf ihre hohen, aufgeregten Stimmen.
Die müssen wir Mamá und Papá sofort zeigen! Sie werden sie wunderschön finden!
Oh nein, sie hatten wieder etwas gefunden! Ständig brachten sie irgendwelche Tiere von ihren kleinen Abenteuern mit nach Hause, letztes Mal war es ein riesiger Frosch gewesen, den wir nur mit Müh und Not wieder vor die Tür setzen konnten.
"Die Zwillinge haben etwas gefunden, das sie Mamá und dir unbedingt zeigen wollen", berichtete ich Papá, er seufzte.
"Solange es nicht wieder ein riesiger Frosch ist, der das ganze Haus durcheinander bringt, ist es mir recht", murmelte er, als Casita auch schon die Tür öffnete und meine kleinen Schwestern lachend reinkamen. Sie hielten eine blaue Schlange in der Hand, die sich gequält versuchte zu befreien. Na ganz toll! Jetzt schleppten sie auch noch eine Schlange hier an! Das hatte mir gerade noch vor dem Abendessen gefehlt!

Ich brauche dich, Bruno 4 - Die verlorene Tochter - Carlas Suche Where stories live. Discover now