"Stefanie!?"

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Yvonne drückt mit ihrer zitternden Hand die schwere, kalte Metallklinke des rostigen Friedhoftores hinunter, das sich nur schwerfällig und unter lautem Knarzen öffnen lässt. Mühselig setzt sie einen Fuß nach dem anderen auf den matschigen Weg, der sich vor ihr auftut. Ihre Beine sind schwer wie Beton, weigern sich regelrecht ihren Körper weiter zu tragen. Seufzend bleibt Yvonne einige Meter weiter stehen und lässt ihren Blick über die vielen, liebevoll bepflanzten Gräber gleiten.

Direkt schwillt der Kloß in ihrem Hals um mindestens das Doppelte an und sie schluckt einmal kräftig, um ihre Tränen zurück zu halten. Sie muss jetzt einfach stark bleiben! Wenigstens einmal, ihrem Sohn zuliebe! Und dennoch verirrt sich nur wenige Sekunden später ein einziger Tropfen der salzigen Flüssigkeit auf Yvonnes Wange, den sie sich, schon fast trotzig, aus dem Gesicht wischt. Sie will sich gar nicht ausmalen, wie verwildert und kahl das Grab ihres Sohnes aussehen wird. Seit Jahren war hier keiner mehr, der sich darum gekümmert hatte. Nicht einmal einen Grabstein hatte Matteo bekommen, das hölzerne Kreuz muss mittlerweile mindestens genauso heruntergekommen sein, wie das was sich gerade zu ihrer Rechten befindet.

Scham steigt in Yvonne auf. Scham, noch mehr Schuldgefühle und Wut. So viel Wut auf sich selbst, auf ihr Handeln, auf ihr Schicksal und Wut auf das Leben, das sie führt. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen!? Wie konnte sie den letzten Ruheplatz ihres Sohnes sich selbst überlassen!? Wie konnte sie nur ihren Sohn sich selbst überlassen!?
Sie muss zu ihm! Dieser Besuch ist längst überfällig! Sie hält es einfach nicht mehr länger ohne ihren großen Schatz aus!

Noch ein tiefer, letzter Atemzug und Yvonne schlägt zielstrebig den Weg nach rechts zu den Kindergräbern ein. Auch wenn sie nur einmal, zu Matteos Beerdigung hier war, hat sich der Weg dorthin, wie eine Brandnarbe auf der Haut, in ihrem Herzen festgesetzt. Ihren unregelmäßigen Atem und ihr rasendes Herz werden der Brünetten erst dann bewusst, als sie die kleinen Wölkchen vor ihrem Gesicht ausmacht, die in der kalten Herbstluft umhertanzen. Zu sehr war sie bis dato in ihrer nicht endenwollenden Gedankenspirale gefangen.

Keine zehn Meter sind es mehr bis zu Matteos Grab, als Yvonne auf einmal wie festgefroren an Ort und Stelle verharrt. Ihre Augen weiten sich und sie kann dem nicht trauen, was diese ihr hier gerade vorgaukeln wollen. Vor dem Grab ihres Sohnes kniet eine Person, die ihr den Rücken zugewandt und Yvonne demnach noch nicht bemerkt hat. Die dunklen, schulterlangen Haare, die weißen Doc Martens an den Füßen und einen dicken Schal um den Hals gewickelt. Das kann nicht sein....

Aber Yvonne ist sich sicher. Denn auch wenn sie Steff Jahre lang nicht mehr gesehen hat, sie würde die hübsche Sächsin, auch unter Tausenden wiedererkennen.
Gerade als sie sich fragen möchte, was Steff jedoch am Grab ihres Sohnes macht, sieht sie wie diese genau in diesem Moment einen Topf Vergissmeinnicht aus dem Korb neben sich nimmt und die Pflanze anschließend liebevoll in die Erde setzt.

Yvonne nimmt einige gemurmelte Wortfetzen wahr, denen sie aber keinen Inhalt zuschreiben kann, bevor der Körper vor ihr zu beben beginnt. Ein verzweifeltes Schluchzen dringt zu Yvonnes Ohren hindurch, das sie bis ins Mark erschüttert. So sehr sie diese Frau eigentlich hassen möchte, so sehr schmerzt es sie, Steff in dieser Verfassung vorzufinden. Alles in Yvonnes Inneren schreit förmlich danach wieder umzudrehen. Aber ihr Herz hat andere Pläne. Viel zu groß ist der Schmerz und der Verlust ihrer Freundschaft. Nur zu gut weiß Yvonne, dass sie endlich mit Steff reden sollte, um mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit abschließen und mit eigenem Seelenfrieden leben zu können. Und noch bevor ihr Verstand sich doch noch dagegen entscheiden könnte, kam ihr ein unsicheres kaum hörbares "Stefanie!?" über die Lippen.

Die Angesprochene versteift sich bei dem Klang dieser unverkennbaren Stimme augenblicklich, scheint einen Moment der Besinnung zu benötigen, um sich dann mit vollkommen geschocktem Blick zur Älteren umzudrehen. Die Panik steht ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, denn die Farbe ist komplett draus entwichen. Selbst die laufenden Tränen scheinen vor Schock innegehalten zu haben. Die beiden Frauen starren sich einfach nur an- minutenlang. Keine der Beiden regt sich, sie nehmen nichts von der Umwelt um sie herum wahr, trauen sich offensichtlich kaum zu atmen, ganz zu schweigen davon, ein Wort über die Lippen zu bringen.

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