"Was haben sie nur mit dir gemacht?"

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Die grelle Stimme der Direktorin durchbricht das wilde Stimmengewusel und hält Louis gerade noch rechtzeitig von seinem kopflosen Vorhaben ab, das er im Nachhinein sicher bereut hätte! So ist er eigentlich überhaupt nicht, wurde immer gewaltfrei erzogen und hatte gelernt, dass Gewalt nie eine Lösung darstellt! Und Ella würde es auch nicht weiterhelfen, wenn er Kiran jetzt verprügelt hätte.... Scheiße, Ella! Die Zeit, in der sich die Direktorin den Weg durch den immer noch wilden Schülerhaufen bahnt, nutzt Louis geschickt und stürmt, als sich eine kleine Lücke vor ihm auftut, so schnell er kann aus der Schule hinaus. Er muss sie schnellstmöglich finden, wer weiß, was ihr in diesem Zustand alles passieren kann! Oh Gott, das möchte ich mir gar nicht ausmalen! Scheiße, wieso habe ich nicht früher gemerkt, WIE schlecht es ihr wirklich geht?! Bestimmt hätte ich diesen Horror hier irgendwie noch verhindern können! Meine arme Maus!

"Ella! Ella, wo bist d..?" Abrupt kommt er kurz vorm Ende des Schulgeländes zum Stehen. Lange suchen musste er zum Glück nicht. Doch der Anblick seiner regungslosen Freundin auf dem kalten, nassen Asphaltboden reicht aus, um auch ihn zum Schwanken zu bringen.  Schnell kniet er sich neben das Mädchen und bettet ihren Kopf vorsichtig auf seinen Schoß. Die Tränen rinnen ihm nur so aus den Augen und er kann ein lautes Aufschluchzen nicht verhindern. Liebevoll gibt er ihr, zum zweiten Mal an diesem Tag, einen Kuss auf die Stirn. Das enorme Kribbeln in seinen Lippen, die nur kurz zuvor die seidenweiche Haut von Ella berührt haben, verdrängt er in diesem Moment- diese verwirrenden Gefühle sind hier gerade definitiv fehl am Platz! Leise flüstert er ihr ein verzweifeltes "Was haben sie nur mit dir gemacht!?" ins Ohr und hebt sie vorsichtig hoch.

Behutsam trägt er Ella, die langsam wieder zu sich kommt, in das Krankenzimmer der Schule und schildert dort der zuständigen Person knapp die Geschehnisse der letzten Minuten.  Ella versucht sich derweil wieder aufzusetzen, weshalb Louis sich sofort neben sie begibt, um sie zu stützen. "Geht's wieder?". Als Antwort bekommt er nur ein zaghaftes Nicken, bevor Ella beginnt mit den Zähnen zu klappern. Ohne zu zögern legt er ihr seine dicke Daunenjacke über die völlig durchnässten Kleider und reibt vorsichtig über ihre Arme, um so zumindest ein bisschen Wärme zu erzeugen. Die Schulsanitäterin untersucht Ella nach größeren Verletzungen oder Auffälligkeiten bedingt durch die Ohnmacht. Sie kann aber soweit nichts Alarmierendes feststellen und schließt nach der Beschreibung von Louis auf einen kleinen Nervenzusammenbruch. Außerdem kommt es wohl bei Jugendlichen in ihrem Alter häufiger zu kurzen Schwindelanfällen. Da es Ella zumindest körperlich wieder einigermaßen gut zu gehen scheint und sie zusätzlich wieder in der Lage ist, sich eigenständig mit der Frau zu unterhalten, besteht kein dringender Grund, zur weiteren ärztlichen Versorgung. "Aber nach Hause und sich ausruhen sollte sie definitiv! Und vor allem sollte sie baldmöglichst aus den nassen Kleidern raus!". "Ich kümmere mich darum und bringe sie nach Hause!". "Louis du bist echt ein guter Junge! Ich werde dich für den Unterricht heute entschuldigen! Pass gut auf sie auf und ruf doch bitte kurz an, wenn ihr zu Hause angekommen seid!". Und damit verschwindet sie aus der Tür und lässt den beiden Jugendlichen einen kurzen Moment der Zweisamkeit.

"Du Louis... Es gibt da ein kleines Problem... Wir können nicht zu mir nach Hause - meine Mama ist noch unterwegs und ich habe noch keinen Zweitschlüssel für unsere Wohnung! Außerdem möchte ich unter keinen Umständen, dass sie hiervon erfährt! Sie würde sich nur unnötige Sorgen machen!". Louis denkt einen kurzen Moment angestrengt über das Gesagte nach und versucht fieberhaft eine Lösung zu finden. "Naja Ella, also so wirklich unbegründet sind Sorgen um dich ja nun wirklich nicht! Aber wenn du das möchtest, halte ich natürlich meinen Mund! Jedoch nur unter der Bedingung, dass du zukünftig mit Allem, und damit meine ich wirklich ALLEM, zu mir kommst! Egal um welche unmenschliche Uhrzeit und egal wie bescheuert es dir vorkommt! Hast du mich verstanden?". Ella nickt gerührt und verliert sich für einen kurzen Moment in den wunderschönen braun-grünen Augen ihres Gegenübers. Dem ergeht es nicht anders, versucht sich aber durch ein kurzes Räuspern aus der Situation zu befreien. "Aber was machen wir denn jetzt mit dir? In den nassen Klamotten kannst du auf keinen Fall bleiben!... Warte ich hab' ne Idee- meine Eltern sind heute Mittag im Proberaum ihrer Band, müssen da wohl noch irgendwas vorbereiten oder besprechen. Wenn du möchtest können wir erst einmal dahinfahren. Kleidung von meiner Mama gibt es da auch genug zur Auswahl. Sie hat sicher Nichts dagegen, wenn du dir davon was ausleihst. Ich denke ihr müsstet ungefähr die gleiche Kleidergröße tragen, soweit ich das beurteilen kann." Grinsend lässt er seinen Blick über Ellas Körper wandern, auf dem sich augenblicklich eine Gänsehaut ausbreitet- und diesmal nicht auf Grund der nassen Kleidungsstücke, die an ihrer Haut kleben.

"Ich würde meinem Vater eben kurz Bescheid sagen, dass wir kommen. Aber da muss ich wohl mit der Wahrheit rausrücken. Ich kann meine Eltern einfach nicht anlügen. Wäre das für dich ok? Ich kann dir versichern mein Vater schweigt wie ein Grab!".  Ella kann sich zwar nicht erklären, warum sie diesem Jungen so sehr vertraut, aber sie tut es einfach. Zustimmend streckt sie ihren Daumen in die Höhe, während Louis schon mit seinem Vater telefoniert und ihm die aktuelle Situation schildert. Wie zuvor schon vermutet, gibt Louis Vater direkt sein Okay und bietet sogar an, die Zwei abzuholen. Trotz dieser durchaus positiven Nachricht, wurde Ella während dem Telefonat aber immer stiller und spielt nun nervös mit ihren feuchten Haaren. Louis bleibt das natürlich nicht verborgen und hackt dieses Mal direkt nach. Die vergangene Stunde war ihm diesbezüglich definitiv eine Lehre! "Hey Ella, was ist los? Was hast du auf dem Herzen? Ich sehe doch, dass dich noch was bedrückt! Wegen meinen Eltern brauchst du dir keine Sorgen zu machen, die sind echt cool drauf und werden dich direkt lieben, glaub mir..." "Nein... das ist es nicht!... Ehm.. du... der "Kuss" vorhin in der Mensa- der war nur freundschaftlich oder?". Beschämt starrt sie dabei auf ihre Schuhe und traut sich nicht Louis direkt anzuschauen. Verdammt was sag ich denn jetzt- eigentlich ja aber irgendwie auch nein - Mist, Louis! Lass dir schnell was einfallen! "Na klar! Mach dir darüber mal keine Gedanken! Aber die anderen wissen das ja nicht! Wenn du weiterhin immer bei mir bist, dann werden die dich zukünftig in Ruhe lassen-versprochen! Die sind doch alle nur neidisch, dass ich die hübscheste Freundin der ganzen Schule habe!" Ein kurzes Zwinkern von Louis unterstreicht dabei die Ironie seiner Aussage. Oh man, was laberst du hier eigentlich für eine Scheiße?!

Denn Louis Herz schmerzt bei jedem seiner Worte mehr. Er wünscht sich doch eigentlich Nichts sehnlicher, als dass diese Lüge Realität wäre. Den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hat, schluckt er gekonnt hinunter. Vergeblich versucht er sich einzureden, dass Ella nicht das Gleiche für ihn empfindet- das hat ja schon ihre geschockte Reaktion auf den Kuss gezeigt! Und doch bildet er sich ein, einen kleinen Schleier der Enttäuschung über ihre Augen huschen zu sehen. "Danke Louis! Für alles! Vor allem, dass du dich so sehr für mich einsetzst! Das ist alles andere als selbstverständlich!". "Na hör mal! Natürlich ist es das für mich!". Ella zieht ihn dankbar in eine lange, herzliche Umarmung. Eine Umarmung, die dafür, dass sie "nur" Freunde sind, entschieden zu lange andauert. Aber das ist den Beiden in diesem Moment völlig egal! Erst das Vibrieren von Louis Handy lässt die Zwei die Nähe zum jeweils anderen schweren Herzens wieder auflösen. Louis Vater ist da, um sie abzuholen.

Die Autofahrt verläuft recht unspektakulär. Thomas nimmt Ella sehr herzlich auf und erkundigt sich direkt nach ihrem Wohlbefinden. Er teilt Louis und ihr noch mit, dass Steff erst etwas später zu ihnen stoßen wird, da sie noch einkaufen ist und setzt die Beiden darüber in Kenntnis, dass er ihr erst einmal Nichts von ihrem Besuch erzählt hat.  Zu diesem Zeitpunkt konnte jedoch keiner der Anwesenden ahnen, welchen Rattenschwanz diese Tatsache noch mit sich ziehen würde.

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