30. Certainty

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Ich hielt meine Hand an die Stirn, um entgegen der Sonne die Straße überblicken zu können. Beinahe im Sekundentakt stoppten Autos in unserer unmittelbaren Umgebung, um Menschen vor dem Flughafen von Cartagena abzuladen oder einzusammeln, aber von Emmanuel fehlte bisher jede Spur. Hatte er nicht etwas von zwanzig Minuten gesagt?

Mit jeder weiteren Minute stieg meine Nervosität und ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt einen sinnvollen Satz herausbekommen würde.

„Keine Sorge, er wird jeden Moment eintreffen. Der Verkehr ist hier um die Mittagszeit immer recht zäh", erklärte Alejandro mit einem Schmunzeln auf den Lippen, fast so, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Du scheinst meinen Bruder wirklich zu mögen, oder?"

„Ja, das kann man so sagen", erwiderte ich leicht verschämt und nahm für einen Augenblick die Hand aus dem Gesicht, um ihn ansehen zu können. „Ich hoffe, für dich ist die ganze Situation in Ordnung. Immerhin hattest du überhaupt keine Möglichkeit, dich auf das hier vorzubereiten."

Alejandro hatte bereits den Mund geöffnet, um mir zu antworten, als neben uns ein mir nur allzu bekannter roter Pickup-Truck hielt. Bevor ich reagieren konnte, öffnete sich auch schon die Fahrertür und Emmanuel eilte aus dem Fahrzeug. Er hatte sich noch nicht einmal die Zeit genommen, um den Motor auszuschalten.

Zielsicher bewegte er sich auf mich zu, ohne seine Augen auch nur für einen Moment von mir zu lösen. Als er mich endlich erreicht hatte, umschloss er mein Gesicht augenblicklich mit seinen Händen. Sofort wurde mein Körper von einem wärmenden Gefühl durchströmt. „Du bist alles, was ich je wollte und ich hoffe, du kannst mir verzeihen."

Ohne zu zögern legte ich meine Lippen auf seine und schlang meine Arme so feste um ihn, wie es mir möglich war. Sein Mund war so warm und weich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ganz automatisch entfuhr mir ein leises Seufzen, welches ich einfach nicht zurückhalten konnte. In diesem Kuss steckte so viel unterdrückte Leidenschaft, dass wir die Welt um uns herum völlig vergaßen.

Zumindest so lange, bis uns ein lautstarkes Räuspern zurück in die Wirklichkeit holte.

„Ich störe nur ungern, aber vielleicht könntet ihr eure kleine Showeinlage an einen etwas intimeren Ort verlagern", schlug Alejandro lachend vor und deutete mit seinem Kinn auf eine Gruppe Touristen, welche augenscheinlich ziemlich interessiert zu uns herübersahen.

Widerwillig löste ich mich ein Stück von Emmanuel und griff augenblicklich nach seiner Hand. „Natürlich verzeihe ich dir und ich hoffe, du mir ebenso. Wir haben beide Fehler gemacht, aber ab jetzt werde ich vollkommen ehrlich zu dir sein", ergriff ich schließlich als Erste das Wort. Die Gefühle, die dieser Mann in mir auslöste, waren einfach unbeschreiblich und ich hatte nicht vor, ihn je wieder gehen zu lassen.

„Der Fehler lag eindeutig auf meiner Seite. Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst." Emmanuels Stirn lag für einen Moment in Falten, als er die Worte aussprach. Offenbar bereute er seine Reaktion zutiefst.

„Lass uns die ganze Sache einfach vergessen und da weitermachen, wo wir aufgehört haben", gab ich lächelnd zurück und drückte aufmunternd seine Hand. Tief in mir drin wusste ich zwar, dass ich nicht ewig vor der Konfrontation mit meinen Eltern fliehen konnte, aber für den Moment zählte für mich einzig und allein meine Beziehung zu Emmanuel. Alles weitere würde die Zukunft zeigen.

****

Obwohl Alejandro einen anstrengenden Flug hinter sich hatte, hatte er angeboten, die Rückfahrt nach Playa Blanca zu übernehmen. Somit nahmen Emmanuel und ich nebeneinander auf der ziemlich engen Rückbank des Trucks Platz.

„Du bist mir offensichtlich noch einige Antworten schuldig", wandte sich Alejandro nach einer gewissen Fahrtzeit an seinen Bruder, während er ihn im Rückspiegel fixierte. Obwohl er noch immer freundlich klang, konnte ich einen fordernden Unterton in seiner Stimme ausmachen.

„Ich wollte dir alles erklären, sobald du wieder da bist", gab Emmanuel zurück und hob entschuldigend seine Schultern. Irgendwie schien es ihm unangenehm zu sein, dass sein großer Bruder ihn vor mir ausfragte.

„Nun bin ich ja da. Also...?", drängte dieser weiter und obwohl mir die Situation ebenso unangenehm war, konnte ich seine Neugierde verstehen. Immerhin hatte er nur für ein paar Wochen das Land verlassen und wurde bei seiner Ankunft gleich mit mehreren Ereignissen überrascht. Davon abgesehen wusste er noch immer keine Details zu der Beziehung zwischen mir und seinem Bruder.

„Darf ich?", wandte ich mich so leise an Emmanuel, dass ich mir sicher war, Alejandro hatte mich aufgrund der Fahrgeräusche vorne nicht hören können. Irgendwie wollte ich ihm die ganze Geschichte wirklich gerne aus meiner Sicht erzählen.

Als Emmanuel mir mit einem kurzen Nicken sein Einverständnis zu verstehen gab, begann ich, alles chronologisch aufzuzählen. Ich erzählte von meiner Flucht aus New York und endete erst bei der Begegnung mit Alejandro im Flughafengebäude. Während meiner Erzählung drückte Emmanuel immer wieder meine Hand, während sein Bruder den Rückspiegel etwas verstellt hatte, um mich hin und wieder ansehen zu können.

„Wow, scheint so, als hätte ich einiges verpasst", ergriff er nach einem kurzen Moment der Stille schließlich das Wort. Nachdenklich trommelte er auf dem Lenkrad herum, bevor er sich noch einmal an mich richtete: „Und was hast du jetzt vor, Charlotte?"

Diese Frage schwebte ohnehin die gesamte Zeit wie ein Damoklesschwert über mir, aber sie laut ausgesprochen zu hören, ließ meine Handinnenflächen erneut zu schwitzen beginnen. Auf der einen Seite war wohl allen Insassen dieses Fahrzeuges bewusst, dass ich früher oder später zurück in die Staaten fliegen würde müssen. Auf der anderen Seite wollte ich diese Tatsache liebend gerne verdrängen.

„Du musst darauf nicht antworten", mischte sich nun auch Emmanuel wieder in die Unterhaltung ein. Es entging mir nicht, wie er seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augenbrauen im Rückspiegel betrachtete.

„Schon gut! Er hat ja recht. Ich werde nicht ewig davonlaufen können", murmelte ich betrübt. Allerdings spürte ich auch, wie sich etwas Grundlegendes geändert hatte. Plötzlich war ich mir im Klaren darüber, dass ein Rückflug in die Heimat keineswegs das Ende meiner Beziehung zu Emmanuel bedeuten würde.

Wenn man sich wirklich liebte, fand sich ganz sicherein Weg – da war ich mir absolut sicher.

Perfect Getaway.Where stories live. Discover now