6. Pandebono

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„Hast du noch Lust auf einen Strandspaziergang? Ich mache das eigentlich jeden Abend, bevor ich mich schlafen lege", schlug Emmanuel vor, während er begann, die Lichter in der Surfschule zu löschen. „Wenn du zu müde bist, kann ich das natürlich auch verstehen."

„Ich glaube, ein Strandspaziergang ist jetzt genau das Richtige. Geschlafen habe ich eben schon genug", stimmte ich sofort zu und freute mich über den unerwarteten Vorschlag von ihm. Insgeheim erleichterte es mich, noch eine Weile Gesellschaft zu haben.

Emmanuel zog daraufhin leise die Tür hinter sich zu und verschloss sie sogleich mit seinem Schlüssel. Anschließend überprüfte er mit einem gezielten Handgriff das Schloss des Holzverschlages und wandte sich danach wieder mir zu.

Dann schlenderten wir ein paar Schritte in Richtung des Meeres. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen klang dabei wie Musik in meinen Ohren. Obwohl die Sonne bereits einige Zeit untergegangen war, spürte ich die Wärme des noch immer aufgeheizten Sandes ganz deutlich unter meinen Füßen. Die Touristen waren mittlerweile weitestgehend zurück in ihren Hotelanlagen verschwunden und es befanden sich nur noch vereinzelte Personen mit uns am Strand.

„Bist du noch glücklich mit deiner Entscheidung?", ergriff Emmanuel schließlich als erster das Wort und ich musste gar nicht großartig über meine Antwort nachdenken, da mir bisher noch kein Gegenargument eingefallen war.

„Das war die beste Entscheidung meines Lebens", entgegnete ich also augenblicklich und konnte immer noch nicht fassen, dass ich so lange benötigt hatte, um die Fesseln meiner Herkunft zu lösen. Trotzdem war mir ebenso bewusst, nicht dauerhaft vor meiner Familie fliehen zu können. Allerdings war ich aktuell genau dort, wo ich sein sollte. Daran bestand überhaupt kein Zweifel.

Emmanuel nickte verständnisvoll und für einen Augenblick lauschten wir dem leisen Rauschen der Brandung. Tagsüber waren die Wellen deutlich stärker gewesen, nun konnte man ihren Klang durchaus als sanft bezeichnen.

„Erzähl mir doch mal etwas über dich. Eigentlich weiß ich noch nichts, außer dass du ein großes Herz für mittellose Reisende hast", durchbrach ich nach einiger Zeit die Stille und war gleichzeitig froh, dass ich von schützender Dunkelheit umgeben war. Ich wollte nicht zu neugierig erscheinen, aber bisher hatten wir tatsächlich ausschließlich über mich gesprochen.

„Ich heiße Emmanuel Rodríguez und bin 20 Jahre alt. Mein älterer Bruder Alejandro und ich betreiben seit zwei Jahren die Surfschule. Vorher hat sie unserem Vater gehört, aber er ist mittlerweile zu alt und hat uns das Geschäft überlassen. Ich bin in Kolumbien geboren und war noch niemals außer Lande. Meine Lieblingsspeise sind Pandebono und am liebsten bin ich am und im Meer." Er holte kurz Luft, bevor er lachend hinzufügte: „Meine Schuhgröße ist 45 und außerdem habe ich Angst vor Hunden."

„Okay ... Das waren jetzt tatsächlich viele Infos", kicherte ich und warf meinem Begleiter einen verstohlenen Seitenblick zu. Ich bewunderte seine lockere Art und ganz automatisch kam mir in den Sinn, dass er das genaue Gegenteil von Lucas war.

Für Lucas gab es keinen Plan B, er hatte sein ganzes Leben bereits durchgeplant und ich konnte mir durchaus vorstellen, wie abwertend er sich über mich äußerte, weil ich das Studium an der Harvard University nicht angetreten hatte. In seinem Kosmos existierten nur Leistung und Erfolg, da konnte er sich mit meinem Vater die Hand reichen.

„Woran denkst du? Doch nicht etwa daran, dass ich ein Weichei bin, weil ich Angst vor Hunden habe?", lachte Emmanuel plötzlich neben mir auf und holte mich mit seinen Worten sogleich aus meinen trüben Gedanken.

„Nein, eigentlich habe ich gerade nur über weitere Gründe nachgedacht, die mich in meiner Entscheidung bestärken", erklärte ich schmunzelnd. Den Gedanken, dass so ein großer Kerl Angst vor Hunden verspürte, fand ich trotzdem irgendwie niedlich, aber das verschwieg ich ihm vorerst.

„Manchmal muss man einfach den Kopf ausschalten und dann ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Es ist nicht immer leicht, die Gedanken beiseite zu schieben, aber mittlerweile bin ich ziemlich gut darin. Willst du meinen Trick sehen?"

„Du hast einen Trick, um den Kopf frei zu bekommen?", hakte ich verwundert nach und stellte in diesem Moment fest, dass er bereits ein schelmisches Grinsen aufgesetzt hatte. In der nächsten Sekunde nahm er auch schon ein paar Schritte Anlauf und brachte sich mit einem sportlichen Sprung in den Handstand. Obwohl der sandige Untergrund ein Fortbewegen schwierig gestaltete, schaffte er es gekonnt, einige Schritte kopfüber zu laufen.

„Siehst du! So schnell ist der Kopf leer", lachte er und kam mit einer eleganten Bewegung zurück auf die Beine, „und jetzt bist du dran!"

Kichernd und ohne groß darüber nachzudenken, versuchte ich, es ihm gleichzutun. Irgendwie schaffte ich es auch tatsächlich, mich in den Handstand zu befördern. Als ich jedoch versuchte, auf den Händen zu laufen, kippte ich sogleich um und fiel tollpatschig in den Sand.

„Alles in Ordnung?", versicherte sich Emmanuel und streckte mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen.

„Mir geht es gut", antwortete ich lachend und pustete mir notdürftig die Haare aus dem Gesicht. Als ich nach seiner Hand griff, zog er mich mit einer schnellen Bewegung in den Stand. Wir hielten die Verbindung unserer Hände eine Millisekunde länger aufrecht, als es nötig gewesen wäre und dieser kurze Moment reichte bereits, um meinen Körper mit einer unerwarteten Wärme zu fluten.

„Das üben wir nochmal", schlug er schließlich grinsend vor und löste langsam unsere Berührung. „Aber für heute sollten wir langsam Schluss machen. Morgen früh müssen wir beide fit sein."

Ich nickte zustimmend und so liefen wir gemeinsam den Weg zu seinem Strandhaus zurück. Vor der Hütte verabschiedeten wir uns voneinander, aber Emmanuel verweilte freundlicherweise noch vor der Leiter, bis ich sicher im oberen Geschoss angekommen war.

„Gute Nacht, Emmanuel", rief ich ihm zu, als ich die Tür aufgeschlossen hatte und warf ihm noch einen letzten Blick zu.

„Schlaf gut, Charlotte aus New York", entgegnete er daraufhin sanft, bevor er sich umdrehte und in der Dunkelheit verschwand.

Perfect Getaway.Where stories live. Discover now