Kapitel sechs - Sie sind überall

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"Woher hast du diese Nummer?", wollte Kara stirnrunzelnd wissen.

"Deke sorgt sich um dich", war seine Antwort.

Innerlich brachte sie ihn schon mal für diesen Verrat um. Was fiel ihm ein, das über ihren Kopf hinweg zu entscheiden?

Doch sie hatte jetzt keine Zeit, um sich über Deke aufzuregen. Wohl übel musste sie ihren Ärger runterschlucken.

"Was ist das Problem?", wechselte sie das Thema, bevor sie noch den Verstand verlor.

"HYDRA."

Okay, das hätte sie sich auch denken können.

"Wo bist du?"

"Quartier Latin, denke ich. Ich sehe die Notre-Dame - laufe geradewegs auf sie zu", erwiderte er, und hörte sich kurz darauf danach an, als würde er wieder schneller laufen. "Fuck."

Besorgt runzelte Kara die Stirn, während sie sich weiter von dem Jahrmarkt entfernte und zum Eingang der Metro ging. "Was ist los?"

Für einen Moment war es still auf der anderen Seite des Funkes.

"Clint?"

"Sie sind wieder hinter mir her", informierte er sie.

"Komm sobald zu kannst zum Eifelturm. Das Café zur rechten."

"Das ist... fast eine Stunde Fußweg von hier", keuchte er zwischen seinen kurzen Atemzügen.

"Nimm dir die Zeit, die du brauchst", behauptete sie. "Werd' erst mal deine Verfolger los."

"Bis später." Er legte auf, und sie nahm ihr Tagesticket aus ihrer Tasche, das sie auf den Scanner bei den Drehkreuzen legte, um Zugang zu den Zügen zu bekommen.

In einer hässlichen Ecke direkt nach dem Eingang, in der es nach Pisse stank, war eine kleine öffentliche Toilette, die vermutlich von keinem Menschen benutzt wurde, wenn es nicht um Leben und Tod ging. Kara hatte sich dort drin eingeschlossen, die Nase angeekelt verkrümmt, und hatte den Rucksack geöffnet, um die Tüte von Deke unter die Lupe zu nehmen.

Von einem Anzug, den sie normalerweise für Missionen anzog, bis zu einer aus Papier bestehenden Brötchentüte, in der eine geladene Pistole eingepackt war, war alles dabei, wonach sie gefragt hatte. Den Inhalt stopfte sie in ihren Rucksack, die Tüte ließ sie auf dem Boden liegen. Sichergehend, dass die Pistole nicht ganz oben oder ganz unten in ihrem Rucksack zu finden war, für den Fall, das sie durchsucht werden sollte, verließ sie die dreckige Toilette wieder, atmete die im Vergleich zu dort drin angenehm frische Luft ein, und machte sich auf dem Weg zu ihrem Gleis.

In den frühen Abendstunden in der französischen Hauptstadt ging es meist relativ laut und chaotisch zu. Die Meisten hatten ihren Feierabend vor sich, somit waren die Straßen voll und die Metro platze fast vor Platzmangel. Als Kara endlich zu dem Gleis gelangt war, das sie zum Eifelturm bringen würde, waren bereits zwei weitere Züge in die Richtung abgefahren.

Aber das machte ja nichts. Es fuhren jede fünf Minuten Züge in die Richtung - eine Sache, die sie an großen Städten so sehr schätzte. Wären dort nicht auch noch so viele Leute, würde sie glatt freiwillig dort hinziehen.

Von ihrem Augenwinkel aus bemerkte sie, wie sie von jemandem beobachtet wurde, der sich als unauffällig halten musste. Kurze blonde Locken ragten unter einem dunkelblauen Baseballcap hervor, und die Statur zeigte ihr, dass ihre Beobachterin durchtrainiert war.

Wurde sie verfolgt, oder war dies eine Delusion ihrer Paranoia? Karas Nerven lagen blank, obwohl noch nichts passiert war.

In wenigen Stresssituationen hatte sie immer noch Schwierigkeiten die Wirklichkeit von ihren intrusiven Gedanken unterscheiden, als wäre sie wieder zwölf Jahre alt - etwas, worunter sie in ihrer Kindheit stärker gelitten hatte. Eigentlich hatte sie das unter Kontrolle, aber vielleicht war sie schon zu lange wach.

Würde es aber die andere Möglichkeit sein, dass sie tatsächlich beobachtet und verfolgt wurde, hatte sie ein enormes Problem - mal wieder.

Wann hatte sie eigentlich mal keine enormen Probleme? Bestimmt war das über ein Jahrzehnt her.

Die U-Bahn traf ein und die Türen öffneten sich. Für einen Moment war es noch voller, als es sein sollte, als die Passagiere ausstiegen und in die Menge traten. Um auf die Probe zu stellen, ob diese Frau ihr folgen würde, stieg Kara ein - blieb jedoch in der Nähe des Ausgangs stehen.

Die Frau hatte sie durch die Mengen an Menschen schneller wieder aus den Augen verloren, als sie es registrieren konnte. Kurzzeitig dachte sie, sie hätte sie sich wirklich nur ausgedacht, doch als sie sie wieder in dem zweiten Wagon erkannte, war dieses Wunschdenken schon wieder begraben worden.

Sie war nicht Sam Winchester. Alles, was ihr passierte, war echt - keine Illusion vom Teufel kreiert, weil er Freude daran hat. Eigentlich hätte sie es sich auch denken können.

Den Rucksack enger an ihren Körper schnallend, um ihn nicht zu verlieren, bahnte sie sich einen Weg durch die volle Bahn - auf der Suche nach einem anderen Zeichen, dass sie tatsächlich verfolgt wurde, und nicht unter Wahnvorstellungen litt.

Zu ihrem Bedauern tat sie es nicht. Die blonde Frau mit der Cap drängelte sich ebenfalls durch die französischen Zivilisten, wie Kara erkennen konnte, als sie einen kurzen Blick zurück warf.

Fuck.

Der Zug hielt an der nächsten Station, und wie ein Sog wurden sowohl Kara als auch mehrere andere Passagiere in Richtung der nächsten automatischen Tür gezogen. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken im letzten Moment auszusteigen - ihrer Verfolgerin somit keine Chance zu geben zu folgen. Ihretwegen konnte sie den Rest ihres Weges laufen.

Als sich die Türen geschlossen hatten, entfernte sie sich bereits von dem Bahngleis. Ein Blick über ihre Schulter zeigte, wie die blonde Frau an der Tür ankam, aus der Kara eben noch gestiegen war. Der Zug fuhr ab und sie verließ die U-Bahnstation.

In der Ferne hörte sie die Glocke einer Kirche, die sechs Uhr abends schlug. Würde es noch vor einem Tag sein, würden Kara und ihre Kollegen bestimmt mittlerweile mit ein paar Bierchen im Gemeinschaftsraum sitzen und den Feierabend genießen.

Sie musste seufzen. Es würde wohl nie wieder so sein wie es vorher war.

Kara I | 𝐇𝐚𝐰𝐤𝐞𝐲𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt