Chapter 6

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CHLOÉ

»Wie jede Geschichte, beginnt auch diese hier mit einem 'es war einmal'.«

Kurze Zeit schwiegen wir beide, in unseren Gedanken versunken, ehe ich nochmal tief durchatmete und mit der Märchenstunde begann.

»Seit vielen Jahren gibt es einen Prinzen. Er soll ein wunderschönes, bald schon göttergleiches Gesicht haben. Ihm liegt das Königreich des Schattens zu Füßen, so wie zahlreiche junge Mädchen, obwohl erzählt wird, dass er kalt und oft herzlos regiert.«

Von meiner kleinen Schwester kam ein verträumtes Seufzen. Ich konnte ihr es nicht verübeln.

»Allerdings verbirgt er sein Gesicht unter einer Maske. Niemand hat je einen Blick unter diese Maske werfen können. Ebenso kennt niemand den Grund dafür, warum er sein angeblich wunderschönes Gesicht unter einer Maske versteckt.«

Mein Blick schweifte langsam aus dem Fenster, durch das rotes Abendlicht in mein Zimmer fiel und mein Gesicht erleuchtete.

Kurz hing ich meinen Überlegungen nach und natürlich drehten diese sich wieder ausschließlich um meine gestrige Begegnung, ehe ich langsam die Geschichte fortsetzte.

Ich erzählte von der Familie des Prinzen, während meine Schwester mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund andächtig lauschte.

»Den Prinzen gibt es nicht erst seit unserer Generation, musst du wissen. Seine Familie existiert seit vielen hundert Jahren und ist fast noch älter als unsere Familie.«

In Gedanken fügte ich ein »aber keiner dieser Prinzen oder Könige hat je sein Gesicht verborgen«, hinzu. Meine Großmutter war jedes Mal daran verzweifelt mir das zu erklären.

Ich wollte genauestens wissen, warum ausgerechnet und ausschließlich Xerxes eine Maske tragen sollte.

Dafür konnte meine Großmutter keine plausible Erklärung finden. Letzten Endes blieb es dann bei einem »Kind, frag nicht so viel.« und ich spielte für die ganze restliche Woche beleidigte Leberwurst. So nannte es zumindest meine Oma.

»Sie leben wortwörtlich im Schatten. Das Schattenland ist ein sehr dunkler Ort, wie es heißt. Angeblich soll dort nie die Sonne aufgehen.
Dort regiert Xerxes seit ein paar Jahren. Es ist nicht genau bekannt wie alt er tatsächlich ist, aber bei der Besteigung des Thrones soll er sehr jung gewesen sein.«

Ich unterdrückte ein Gähnen, während ich etwas umständlich mein Restwissen in Worte zu fassen versuchte. Meine Versuche stoppte ich allerdings schnell wieder, als mein Blick an mir herab, auf mein Bett glitt.

Meine Schwester war eingeschlafen und hatte sich an meine linke Hüfte gekuschelt. Ein Daumen war zu ihrem Mund gewandert. Urplötzlich musste ich lächeln. Vorsichtig stand ich auf und legte ihr noch im Vorbeigehen meinen abgenutzten Teddy in die Arme.

Wenn mich nicht Alles täuschte, schien sie im Schlaf zu lächeln und ich schmolz wortwörtlich dahin.

Louna war ein Schatz. Nicht nur vom Charakter, auch ihr Gesicht war Engelsgleich. Ihre blonden Löckchen trugen zusätzlich noch zu dem engelsgleichen Aussehen bei.

Ich konnte mich glücklich schätzen eine so tolle Schwester zu haben, selbst wenn sie ab und an nervte.

Meine Müdigkeit, die ich bis vor wenigen Minuten noch verspürt hatte, war längst verschwunden.

Schnell schnappte ich mir eine kleine Kerze und entzündete sie. Vorsichtig öffnete ich nun meine Zimmertür, darauf bedacht, dass sie nicht quietschte und Louna aufwecken würde und schlich mich den langen Gang entlang.

*

Ich kam bei meinem Rundgang nicht drumherum, meinen Wohnort zu bewundern.

Tatsächlich wohnte ich in einem real gewordenen Märchenschloss, das mit locker zehn Türmen versehen war und dessen Anzahl von Fenstern bestimmt im oberen dreistelligen Bereich lag.

Wer auch immer diese Teile putzen musste; Ich schloss ihn in mein Gebet ein. Zumindest dann, wenn mich meine Mutter in die Messe zwang, die stets in der schlosseigenen Kapelle stattfand.

In beinahe jedem Gang hingen die Wände voll mit uralten Gemälden, die irgendwelche Ahnenherren zeigten, die es allesamt bei keinem Schönheitswettbewerb auch nur ansatzweise in die nähere Auswahl geschafft hätten.

Meine Kerze, die ich mir ja vorsorglich bereits mitgenommen hatte, spendete mir nur spärlich Licht, als ich an den zahlreichen Urahnen vorbei, durch das dunkle und verlassene Schloss streifte.

Etwas gruselig fand ich es schon, an Gemälden von längst verstorbenen Personen langzulaufen, die man selber nie kennengelernt hatte. Ich fühlte mich oftmals beobachtet und Abends im Schummerlicht war dieses Gefühl besonders stark.

Allgemein war es glaube ich nicht die beste Idee Abends alleine durchs Schloss zu streifen.
Ich war mir sicher das alle schliefen, trotzdem glaubte ich an jeder Ecke des Schlosses etwas verdächtiges zu hören.

Prompt überzog sich mein Körper mit einer Gänsehaut, die allerdings auch davon kommen konnte, dass ich in einem relativ dünnen Sommerkleid durch die uralten und kalten Gemäuer streifte.

Irgendwoher wollte ich ein Quietschen vernehmen, was meinen Schritt nur noch beschleunigte. Inzwischen schaute ich gar nicht mehr nach rechts oder links und überlegte schon gar nicht, ob das überhaupt der richtige Weg zurück in mein Zimmer war, sondern lief stur geradeaus die Gänge weiter.

Wahrscheinlich war ich im Kreis gelaufen, denn ich kam wieder in den Gang, in dem ein paar der Gemälde von den Urahnen hingen.

Dann aber erkannte ich ein besonders hässliches Exemplar wieder. Wenn meine Eltern von diesem Gedanken wüssten, wären die Dunkelheit und die gruseligen Geräusche meine geringsten Probleme.

Zu meinen Eltern hatte ich - frecher Weise - mal über dieses Gemälde so etwas gesagt wie: »Muss das ausgerechnet vor dem Esszimmer hängen? Da kommt mir glatt das Essen wieder hoch bei dem Anblick.«

Den Monat Hausarrest und Hilfe in der Küche, die ich von meinen Eltern verdonnert bekommen hatte, hatten sich in meinen Augen allerdings überaus gelohnt.

Ich wollte gerade in mein Zimmer zurückkehren (immerhin wusste ich ja jetzt wo ich war), als mir auffiel, dass die Tür zum Esszimmer nur angelehnt war und ein kleiner Lichtstrahl auf den Flurboden fiel.

Wahrscheinlich waren meine Eltern noch wach und diskutierten über sterbenslangweilige Regierungsangelegenheiten.

Mir graute bereits jetzt davor, dass ich es irgendwann einmal war, die das übernehmen und sich damit auseinandersetzen musste.

Also wandte ich mich von der Tür ab, aber genau in diesem Moment erklang die Stimme meiner Mutter und was sie sagte war weitaus spannender als mein - hoffentlich warmes - Bett.

XerxesWhere stories live. Discover now