Chapter 5

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CHLOÉ

Lange Zeit stand ich einfach nur versteinert da und starrte verblüfft in die Richtung, in die meine Bekanntschaft so malerisch verschwunden war.
Ist diese Begegnung tatsächlich real gewesen oder hatte ich etwa alles nur geträumt?

Vorsichtig kniff ich mir in den Arm. »Au!«

Ich wusste nicht so richtig, ob ich froh sein sollte, dass der Abend und die Nacht Realität waren, aber egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte die angenehmen Gespräche (und natürlich den Kuss) nicht bereuen.

Dennoch kam ich immer wieder zu dem Punkt, dass ich über den Unbekannten nichts wusste. Mal abgesehen von den ganzen Legenden, deren wahren Kern ich selbst nach meiner Begegnung mit Xerxes sehr anzweifelte.

Vermutlich würden sämtliche Mädchen mit Krönchen auf dem Kopf in Ohnmacht fallen, wenn sie erfahren würden, dass der sagenumwobene Prinz und ich einen Kuss getauscht hatten.

Verständlicherweise.

Von plötzlicher Müdigkeit befallen, schlurfte ich langsam und erschöpft in Richtung Eingang.
Noch nicht einmal im Foyer angekommen, stürzten bereits meine Eltern auf mich zu und meine Mutter begann mich mit Fragen zu bombardieren.

»Wo hast du gesteckt? Ich habe dich den ganzen Abend nicht gesehen! Weißt du denn gar nicht was für Sorgen wir uns gemacht haben? Wie kannst du eigentlich ohne ein einziges Wort verschwinden?
Du hast uns vor aller Augen blamiert! Alle Prinzen haben sich so darauf gefreut und du hast sie dermaßen verärgert! Mich würde es wundern, wenn überhaupt noch einer kommen würde.«

»Ähh...«, begann ich meine Erklärversuche wenig originell und eloquent.

»Das heißt 'wie bitte', junges Fräulein. So habe ich dich nicht erzogen.«, kam es prompt von meiner Mutter. Ich konnte mir nur schwer eine patzige Antwort verkneifen.

Von wegen, sie hätte mich nicht so erzogen. Regierungsgeschäfte waren für sie ohnehin all die Jahre das A und O gewesen.

Nur weil sie bei meiner kleineren Schwester urplötzlich bemerkt hatte, dass sie sowas wie Zuneigung und eine Mutter brauchen, wurde ganz außer Acht gelassen, dass ich ihnen als Baby so gut wie egal war.

Meine Erziehung hatten vorwiegend Gouvernanten und Hauslehrer übernommen, die, meiner Ansicht nach, nur bedingt für die Arbeit mit Kindern geeignet waren.

»Ich war die ganze Zeit auf der Terrasse und im Park. Einer eurer Gäste - fürs Protokoll: er war auch ein Prinz - hat mir Gesellschaft geleistet.«, sagte ich schließlich, da die Blicke meiner Mutter immer auffordernder wurden.

Wer der Prinz war, ließ ich großspurig aus.

Kommentarlos nahmen sie meine Antwort hin, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie weiter gebohrt hätten, wenn nicht in dem Moment ein Diener erschienen wäre und das Frühstück angekündigt hätte.

*

Den ganzen Tag über beherrschten blaue Augen und schwarze Haare meine Gedanken. Und auch der raue, tiefe Klang seiner Stimme hallte mir immer wieder im Ohr nach. Dementsprechend ließ meine Konzentration zu wünschen übrig.

Egal was ich tat, nach nur wenigen Sekunden schweiften meine Gedanken ab und vor meinem inneren Auge spielte sich der Kuss erneut ab.

Abwechslungshalber auch unser Tanz.

Seufzend klappte ich das Buch zu, was ich aufgeschlagen hatte, bevor ich es für eine lockere Stunde nur angeschaut hatte und auf das ich mich eigentlich immer gut konzentrieren konnte.

Es hielt meine Gedanken normalerweise für einen kurzen Moment an und ließ mich alles um mich herum vergessen, aber selbst das wollte heute nicht helfen.

»Was ist nur los mit mir?«, fragte ich laut in den menschenleeren Raum. Nur ein abgenutzter Teddy war mein stiller Zeuge. Seufzend starrte ich ihn mit einem wütenden Blick nieder, gerade so, als wäre er der Verursacher und zeitgleich die Lösung des Problems.

Lustlos warf ich das Buch auf den Berg von Bücher zurück, der sich vor meinem Bett zu stapeln begann. Wenn ich mich nicht verzählt hatte, hatte ich heute mit nicht weniger als zwanzig Büchern versucht mich abzulenken.

Mein Gedächtnis hielt es aber immer noch für notwendig, mir Gesprächsfetzen von gestern Abend vorzuführen.

»Liest du?«
»Oh ja. Sogar sehr viel.«
Mein Gegenüber nickte. »Ich auch.«
»Ich nehme an, du liest keine Romanzen?«
Er grinste und entblößte mir eine Reihe perfekter weißer Zähne. »Ab und zu schon. Ich habe nichts gegen eine gute Liebesgeschichte.«

Sein kalter Blick schien sich für wenige Sekunden zu intensivieren; wurde vielsagender.
Wenn es nicht dunkel gewesen wäre, man hätte meinen leuchtend roten Kopf bis in die hintersten Winkel des Königreichs sehen können.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als mein unbekannter Gegenüber seine Hand ausstreckte und meine Haarlocke, die aus der komplizierten Hochsteckfrisur herausgefallen war, wieder hinters Ohr stopfte. Seine Berührung war federleicht und ich unterdrückte den Drang, meine Wange gegen seine warme Hand zu pressen.

»Warst du jemals verliebt?«, fragte ich geradeheraus. Woher ich den plötzlichen Mut nahm? Ich wusste es nicht.
Mein Tanzpartner schien zu überlegen.

Ein Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken und beförderte mich schlagartig zurück in die Realität.

»Chloé? Bist du da?«

Die kindliche Stimme meiner kleinen Schwester würde ich überall wiedererkennen. »Ja!«, rief ich. »Komm rein.«

Eigentlich hätte ich über die Störung genervt sein müssen, aber das liebliche Lächeln eines Kindes, was meine Schwester aufsetzte, machte alles wieder wett und ich musste automatisch ebenfalls lächeln.

Außerdem war ich froh über jede Ablenkung, die ich im Moment bekommen konnte. Selbst wenn sie von meiner etwas nervigen, kleinen Schwester kam.

Ich war ganz froh, dass sie für die Bälle noch zu klein war. Vermutlich hätte ich sie sonst die ganze Zeit als Anhängsel dabei gehabt.

»Was willst du von mir, Louna?«, fragte ich lächelnd, als sich Besagte durch meinen Bücherberg schlängelte und umständlich aufs Bett kroch, ehe sie sich an mich kuschelte.

»Ich will eine Geschichte!«
»Eine Geschichte?«
»Ja. Die mit dem Prinzen und der Maske. Mama hat heute keine Zeit.«

Oh nein. Ich wusste genau welche Geschichte meine allerliebste Schwester Louna wollte. Und ich dachte, ich könnte mich wenigstens für ein paar Minuten ablenken. Typisch war aber mal wieder, dass meine Mutter keine Zeit für sowas hatte.

»Aber du hörst sie doch beinahe jede Nacht. Ist nicht mal Zeit für eine neue Geschichte, was meinst du?«, fragte ich deshalb.

Aber Louna schüttelte nur so vehement den Kopf, wie sie konnte. »Ich will die Geschichte!«
»Schon gut, schon gut.«, beschwichtigte ich sie und zog sie auf meinen Schoß.

»Also... wie von meiner kleinen Prinzessin gewünscht: Xerxes.«

XerxesWhere stories live. Discover now