6. Der Jahrmarkt (2)

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"Und habt ihr schön Spaß gehabt, Kinder?", fragte Stevens Mutter uns, als sie gerade dabei war uns das Mittagessen zu servieren. Wie meine Eltern, schien auch Steven's Familie jedes Jahr gemeinsam zu grillen. Manche Traditionen gibt es wohl in jeder Familie.

"Ja, hatten wir. Danny hat mich mit auf die Achterbahn genommen. Zuerst hatte ich ein wenig Angst, aber dann sind wir tatsächlich drei Runden hintereinander gefahren", berichtete Steven voller Freude. Den ganzen Vormittag lang, hatten wir so viel Spaß, dass wir gar nicht gemerkt hatten, wie schnell die Zeit vergangen war. Wir sind sogar zehn Minuten zu spät zum Treffpunkt gekommen, einfach weil wir nicht mehr auf die Uhr geschaut hatten.

"Magst du lieber ein mariniertes Stück Fleisch oder ein Normales? Da du neu in der Familie bist, weiß ich leider noch nicht, was dir schmeckt", meinte Lucía. Ich deutete auf das marinierte Steak, welches auf dem Grill lag. Ich präferierte gewürztes Essen schon immer. Sogar scharfe Sachen aß ich liebend gerne, nicht etwa wegen dem "Brennen" im Mund, sondern weil es dem Gericht einfach einen gewissen Unterton verlieh. Andere konnten das nie verstehen. Ich mochte es halt einfach.

"Ich nehme meines wie immer", meinte Steven und bekam ein normales, ungewürztes Steak von seiner Tante auf den Teller und die Kartoffeln welche wir als Beilage bekamen, pürierte sie ihm weich. "Vielen Dank", lächelte er überglücklich und nahm gleich einen Bissen.

"Huch? Magst du etwa kein mariniertes Fleisch?", wurde ich nun neugierig. Er gestikulierte mir ein unentschlossenes „naja" mit seiner Hand und meinte: "Nicht direkt. Ich empfinde manche Geschmacksrichtungen nur als viel zu intensiv und meide sie deswegen meist. Auch harte Lebensmittel püriere ich mir meistens weich, weil es mir so angenehmer ist", erklärte er mir.

"Süße Sachen esse ich zum Beispiel ganz gerne, aber ich empfinde scharfes, würziges oder bitteres Essen als unangenehm", fuhr er fort. Ich hatte zwar bemerkt, dass er sich manchmal sein Essen vorher pürierte und seine Mahlzeiten fast nie nachwürzte, aber habe darauf nie wirklich geachtet. Steven hatte zwar einige seltsame Angewohnheiten an sich, aber ich konnte bisher immer drüber hinweg sehen, weil ich ja wusste, dass er dafür nichts konnte.

"Aha und ist das bei allen Autisten eigentlich so?", fragte ich, da es mich echt interessierte. In dem Buch von damals, hatte ich das nämlich nicht gelesen.

"Jein. Also autistische Menschen verarbeiten alltägliche Reize und Sinneswahrnehmungen ganz anders als wir, jedoch gibt es kein genaues Bild, von dem man ausgehen kann. Manche sind empfindlich bezüglich Geräuschen oder Gerüchen, manche sind überempfindlich und manche eher unempfindlich. Das Autismus-Spektrum ist groß, es gibt nicht EIN Bild von Autismus, nachdem man sich richten kann", antwortete mir Steven's Mutter. Ich hatte das Gefühl, jeden Tag etwas Neues über Steven und auch andere autistische Menschen zu lernen. Früher hatte ich tatsächlich nicht mal gewusst, dass solche Leute existierten. Meine Eltern hielten ja bekanntlich nicht viel davon, mir etwas über die bunte und vielseitige Welt da draußen beizubringen.

Während des Essen, versuchte ich, so gut es ging, Messer und Gabel mit meiner rechten Hand zu bändigen. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich es, aus welchen Gründen auch immer, nicht übers Herz gebracht, es meiner Familie zu sagen. Wahrscheinlich wollte ich Steven nach allem, was die letzten Tage passiert war, nicht noch mehr verunsichern. Vielleicht wollte ich aber auch nur nicht die Festtagsstimmung der anderen versauen, ... oder ich redete mir das nur ein, weil ich im Inneren einfach zu Feige war, ihnen die Wahrheit über meine Hand zu sagen, und dass ich vielleicht nie wieder der Alte sein würde.

"Danny, alles okay? Deine rechte Hand sieht echt nicht gut aus! Du hast ja kaum Kontrolle über sie", fiel Tony auf und blickte voller Entsetzen auf meine verkrüppelte Hand. "Nein, alles gut...Wirklich...der Arzt hat gesagt, dass sie ein paar Tage brauchen wird, um wieder richtig zu funktionieren. Schließlich habe ich sie wochenlang nicht richtig benutzen können", log ich wie aus der Pistole geschossen. Er sah mich zunächst etwas skeptisch an, schien mir schlussendlich aber doch meine Geschichte abzukaufen.

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