Kapitel 19

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Lustlos stocherte Geena im Kohl herum, spießte etwas auf und ließ es wieder auf den Teller fallen.
Markos Kochkünste ließen wirklich zu wünschen übrig.
Geena hasste Kohl über alles und das fettige Fleisch bekam sie nicht runter.
Und die Beilage hatte Marko völlig vergessen.
Ihr knurrender Magen ließ Marko aufschauen.
„Schmeckt's dir nicht?”, fragte er verwundert.
Seufzend schüttelte sie den Kopf und legte die Gabel beiseite.
Marko stand auf, kippte ein paar Schokocornflakes in eine Schüssel, goss Milch drüber und stellte sie Geena hin.
Dankbar lächelte sie und belud den Löffel.
Ihn zum Mund zu führen schaffte sie allerdings nicht.
Marko legte das Besteck hin und lehnte sich zurück.
„Okay, erzähl, was ist los?”
Sie schaute zögernd auf die aufweichenden Cornflakes.
Dann erzählte sie.
„Ach, ich habs solche eine Angst, dass der Besitzer Baron zurückhaben will. Ich will einfach nicht, dass er zu diesem Tierquälerei zurückmuss. Ich bringe es nicht, ihn wegzugeben. Ich habe ihn sooo lieb gewonnen und er hat schon so große Fortschritte gemacht. Ach...”
Sie schniefte und wischte sich eine Träne ab.
„Ich werde mich morgen überall rumfragen. Ich werde den Besitzer finden und ihm Baron abkaufen. Geena, wir schaffen das!”, sagte Marko mit großer Überzeugung.
Geena versuchte ihm zu glauben.
Sie wollte und konnte ihren neuen Liebling nicht hergeben!

In dieser Nacht schlief sie unglaublich schlecht.
Sie warf sich in wilden Albträumen in ihrem Bett hin und her und wachte mehrmals schweißnass auf.
Die Nacht war für sie ab halb sechs Uhr morgens vorbei, weil sie sich zu sehr fürchtete, erneut einem Albtraum zum Opfer zu fallen.
Sie schlich sich ins Wohnzimmer, wo Nanuk gähnend auf sie wartete.
Geena gab ihm einen kleinen Frühstückshappen in Form eines Leckerlies und ließ sich mit ihrem Handy in der Hand auf die Couch fallen.
Sie hatte den Verdacht, dass ihr Baron einmal sehr berühmt gewesen sein musste.
Er war so ausdauernd und zielstrebig, der perfekte Charakter eines Renn- oder Vielseitigkeitspferdes.
Sie gab in die Suchleiste “ursprüngliche berühmte Pferde”.
Der Browser spuckte dutzende Ergebnisse aus.
Dressur, Springen, Rennen, Vielseitigkeit, Zucht,...
Geena wusste nicht wo sie anfangen sollte.
Im Grunde passte alles.
Sie konnte Baron wirklich schlecht einschätzen, ob er nun Galoppwechsel sprang, Hindernisse überwand, sich als Erster über die Zielgerade kämpfte, ausdauernd im Gelände lief oder Stuten begattete und auf Schauen erschien.
Sie scrollte sich durch die vielen Namen mit Bildern daneben und schaute sich kanpp eine Stunde die vielen hübschen Pferde an.
Plötzlich blieb ihr Blick an der Überschrift eines Artikels hängen.
“Was geschah mit Spitzen-Springpferd Leviathan?”
Der Name sprach nicht gerade für ein Liebhaberpferd.
Das Leviathan stammt aus der jüdischen Mythologie und ist ein Seeungeheuer oder auch, später im Christentum, ein Dämon.
Geena klickte auf den Link und wurde direkt zu einem Zeitungsartikel geleitet.
Auf dem ganzen Bildschirm war nur noch ein Bild zu sehen.
Ein großes weißes Pferd über einer gigantischen Mauer.
Baron!
Er hatte die Ohren stramm an den Kopf gelegt.
Der Reiter war bewaffnet mit scharfen Sporen und einer harten Gerte.
Geena schossen die Tränen in die Augen.
Sie scrollte schnell runter, um dieses schreckliche Bild nicht mehr sehen zu müssen.
Im Artikel berichtete der Schreiber über die erfolgreiche Laufbahn des schönen Hengstes und wie er plötzlich nicht mehr an Turnieren erschienen war.
Alle Antworten auf die in der Überschrift gestellte Frage verloren sich in wirren Vermutungen.
Geena war fassungslos.
Es handelte sich zu hundert Prozent um ihr gefundenes Pferd.
Der Körperbau.
Die Kopfform.
Die rosa Nüstern.
Die Größe.
Die Augen.
Alles stimmte überein.
Sie machte schnell einen Screenshot von dem Artikel und dem Bild.
Dann drückte sie energisch mehrmals auf die Zurück-Taste.
Marko schlurfte verschlafen ins Wohnzimmer und hielt sich gähnend die Hand vor den Mund.
„Na, was machst du denn schon hier? Konntest du nicht mehr schlafen?”, fragte er und schaltete die Kaffeemaschine an.
Geena stand auf und hielt ihm wortlos das Handy mit dem Bild unter die Nase.
Markos Augen wurden groß und er riss ihr das Handy aus der Hand.
„Aber...aber...aber das ist doch...Geena...”, stammtelte er.
„Richtig.”
„Los, wir müssen rechachieren, wir sein Besitzer heißt!”, rief Marko und warf ihr das Handy zu.
Sie erwischte es gerade noch und öffnete sofort wieder die Suchleiste.

Eine knappe halbe Stunde später waren sie fündig geworden.
Bis vor zwei Jahren hatte ein älterer Mann namens Richard Wolkseif den Hengst Leviathan auf den internationalen Parcours geritten und so manche Siege nach Hause gebracht.
Als dann bei der Siegerehrung eines der letzten Turniere einer Frau aus dem Publikum die weggeschminkten Striemen und Verletzungen aufgefallen waren und sie dies dem Tierschutz gemeldet hatte, war Wolkseif mit seinem Pferd aus dem Turniersport ausgestiegen.
Dies war allerdings nur eine wage Vermutung und der Tierschutz war auch nie hinter diesem Gerücht hergegangen.
„Immerhin, ein Name. Ich gehe da jetzt hinterher und du kannst, wenn du willst, mit Nanuk zu Baron gehen”, erklärte Marko und nippte jetzt erst an einem Kaffee.
Angeekelt verzog er das Gesicht und kippte den Kaffee in den Abfluss.
„Kein Frühstück?”, fragte Geena verwirrt, „Dafür haben wir doch wohl noch kurz Zeit.”
Schnell verdrückten die beiden ein paar kleine Brotscheiben und machten sich dann auf den Weg.
Marko hatte im Internet den Namen Wolkseif nur ein Mal gefunden, allerdings mit weiblichem Vornamen.
Er wollte dort hinterhergehen und sich durchfragen, ob jemand diesen Herrn kannte.
Geena war mit ihrem Hund längst bei der Weide angekommen, als Marko sich im Auto heftig mit seinem Navigationssystem stritt.
Sie hatte ihm nicht erzählt, was für einen Plan sie mit Baron verfolgte.
Sie hatte heimlich die Zügel aus dem Haus geschmuggelt.
Ihr Plan war waghalsig und äußerst gefährlich und vielleicht auch noch zu früh, doch Geena vertraute dem Hengst.
Sie hoffte inständig, dass Baron ihr ebenfalls vertrauen würde.
„Hey, Baron, Großer, komm mal her!”, rief sie und lockte ihn mit einem saftigen Apfel.
Der Kopf des Lipizzaners schoss in die Höhe und ein dumpfes Wiehern entwich seiner Kehle.
Mit flottem Schritt kam er auf die zu und ließ sich den Apfel schmecken.
Das Aufhalftern klappte inzwischen so gut, dass Geenas Ängste, dass Baron ihr nicht vertrauen würde, immer weiter schrumpften.
Sie klinke die Karabiner der Zügel am Halfter fest und führte den Hengst zuerst ein paar Runden, bevor sie ihn kurz außerhalb der Weide grasen ließ, damit er sich entspannen konnte.
Sollte sie wirklich?
Was, wenn er buckelte und sie abwarf?
Sie hatte keine Schutzweste und keine Reitkappe.
Vielleicht sollte sie doch einfach noch ein bisschen warten.
Geena schielte zum Zaun hinüber.
Die Verlockung war einfach zu groß.
Er stand perfekt.
Sie könnte einfach so aufsteigen.
Aber was, wenn er weglief?
Dann wäre er frei und vorallem weg.
Zögernd kletterte sie auf den Zaun und hielt die Zügel am harten knochigen Mähnenkamm fest.
Sie strich ihm lange und vorsichtig über den Rücken, unschlüssig, was sie tun sollte.
Baron graste abwartend immer an der gleichen Stelle.
Er bewegte sich nicht.
War das nicht ihre Chance?
Ganz langsam hob Geena ihr rechtes Bein und führte es über seinen Rücken.
Baron hörte auf am Gras zu zupfen und hob den Kopf.
Ihr stockte der Atem.
Wenn er jetzt loslief...
Gerade wollte sie ihr rechtes Bein zurückziehen, als Baron plötzlich den Kopf zu ihr drehte und begann sie zu schupsen.
Sie glitt plumpsend auf seinen Rücken und konnte gerade noch die Zügel nachfassen, als er sich auch schon in einen gemächlichen Schritt setzte.
Geena spürte seine harte Wirbelsäule und seinen hohen Widerrist, auf dem sie so ungewollt gelandet war, doch ihr Herz schlug zu schnell und zu freudig, um alles zu realisieren.
Sie saß wirklich auf Barons Rücken!
Es war unglaublich.
Wie sehr hatte Geena sich dieses Erlebnis in den vergangenen Wochen gewünscht!
Wenn man jeden Tag im Sattel gesessen hatte und jede freie Stunde bei den Pferden verbracht hatte, konnte es sehr schwierig sein, dieser Aktivität längere Zeit nicht nachzukommen.
Vorsichtig nahm Geena die Zügel ein kleines Stück auf.
Er gehorchte ihr auf die kleinsten Zeichen.
Ein sanfter Schenkeldruck genügte und Baron wechselte die Richtung.
Geena ließ ihn vorsichtig anhalten, erstaunt darüber, dass er sofort einige Schritte rückwärts ging.
Er konnte unglaublich viel!
Sie wandte den Kopf.
Rechts zur Weide zurück?
Oder doch links auf den Waldweg?
Baron nahm ihr die Entscheidung ab und schritt frei aus auf den Wald zu.
Seine Ohren spielten freudig und sein Hals war schön gebeugt.
Er begann freudig zu traben.
Sein Körper schwang herrlich und Geena genoss die vertraute Bewegung.
Er trabte den Waldweg hoch und schnaubte glücklich ab.
Bevor die auf dem Weg, auf dem Fahrräder zugelassen waren, ankamen, parierte sie den Lipizzaner behutsam durch zum Schritt.
Übereifrig wendete er auf der Hinterhand und blieb dann geschlossen stehen.
Scheinbar war er früher auch einmal in der Dressur geritten worden. Die Sonne blitzte am Waldrand hervor.
Dort lag Barons Wiese.
Der Weg war lang.
Und ohne Wurzeln.
Der Boden lud geradezu dazu ein.
„Okay, möchtest du?”, fragte Geena den Hengst und legte ihm eine Hand an den Hals.
Er schnaubte und richtete seinen Blick ebenfalls in die Ferne.
Geena schloss kurz die Augen und ließ alle Geräusche auf sie einprasseln. Dann gab sie Baron entschlossen den Kopf frei und drückte ihm leicht die Fersen in die Flanken.
Er schaltete sofort und sprang aus dem Stand in den Galopp.
Er jagte den Weg hinunter und schüttelte wild seine Mähne.
Geena hatte sich noch nie so frei gefühlt.
Sie ließ die Zügel fallen und breitete die Arme aus.
Reiten ist wie Fliegen.

Marvelous Future - Ich passe auf dich aufWhere stories live. Discover now