Kapitel 5

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Wie durch Watte nahm Geena die Stimme ihrer Mutter war.
Ihre Augenlider waren viel zu schwer, um sie zu heben.
Sie fühlte die Wärme um sich herum.
Mit den Fingern fuhr sie über eine kuschelweiche Decke, die sie komplett einhüllte.
Geena fühlte sich merkwürdig schlapp.
Was war bloß passiert?
Sie konnte sich kaum noch erinnern, was geschehen war.
War sie vielleicht ohnmächtig?
Oder gar erfroren?
Sie brachte viel Kraft auf und öffnete mit viel Mühe ihre Augen.
Ihr Blick schweifte umher.
Ein Kamin.
Die Funken sprühten und es knisterte.
„Sie ist wach!"
Geena drehte ihren Kopf.
Susan setzte sich behutsam neben ihr auf die Couch.
Die Erinnerung kehrte langsam zu Geena zurück.
Der Regen.
Das Gewitter.
Die Kälte.
Und dann...
Das Pferd!
Sie wollte etwas sagen, doch aus ihrer Kehle kamen nur heisere Laute.
„Psst.”
Susan legte einen Finger auf die Lippen.
Sie schob Geena eine Tasse mit einem Strohhalm hin.
Geena realisierte den starken Geruch von Kräutertee und schüttelte sich.
Doch der Strohhalm rückte wieder näher an ihren Mund.
Wie ein bockiges kleines Kind drehte sie den Kopf zur Seite.
Susan lachte.
Sie wusste, wie sehr ihre Tochter Kräutertees hasste.
„Schlaf noch ein bisschen”, sagte sie leise und strich Geena über das lockige, immernoch leicht feuchte Haar.
Und das tat Geena auch.

Als sie am späten Morgen wieder erwachte, schien die Sonne durch die großen Glasfenster.
Vor ihr auf dem Tisch stand ein herrliches Frühstück.
Sie lag immernoch auf der Couch.
Und zwar nicht auf der in ihrem Zuhause.
Ruckartig setzte sie sich auf.
Marko grinste sie fies an.
Er stand hinter seiner Theke und goss Kaffee auf.
Wo war Susan?
Geena wandte den Kopf hin und her, doch von ihrer Mutter war nichts zu sehen.
Der Duft von Erdbeeren stieg ihr in die Nase.
Sie betrachtete die Teller und Schüsseln auf dem Tisch.
Liebevoll angerichtetes Obst, ein Ei, dampfende Brötchen und ein Becher mit heißem Wasser.
Daneben lag ein Früchtetee-Beutel.
Geena bemerkte ihren knurrenden Magen und nahm ein Aprikosenstück.
Markos Blick ließ sie nicht los.
„Was?!”, fauchte sie.
Doch Marko grinste nur weiterhin.
„Warum warst du draußen, Regina?”
Diese Frage kam so unerwartet, dass Geena sich an der Aprikose schlimm verschluckte.
Röchelnd und hustend starrte sie ihn an.
Doch leider wartete er, bis sie sich beruhigt hatte.
„Warum warst du draußen?”
Mist, wie sollte sie dieser Frage bloß entgehen?
Einfach patzig antworten?
„Was geht dich das an?”, grummelte sie und aß weiter.
Sie merkte immernoch die Blicke in ihrem Rücken.
Es ging ihn nunmal nichts an.
Eine kleine Stimme tief versteckt in Geenas Kopf begann zu flüstern.
„Geena, er ist Tierarzt. Vielleicht kann er dem Pferd helfen!”
Schnell schob sie den Gedanken weg.
Soweit kam es ja wohl noch, dass sie ihn fragte, ob er ihr helfen könne.
Allerdings...
Susan würde sie mit der zugegeben nur kleinen Erkältung die nächsten Tage wohl kaum aus dem Haus lassen.
Sobald Geena einmal nieste war sie fast schon in Quarantäne.
„Was findest du eigentlich an diesem Lipizzaner?”, fragte eine andere Stimme in ihrem Kopf, „Er kann dir doch völlig egal sein!”
Aber er war Geena nicht egal.
Er tat ihr leid.
Und sie wollte ihn retten.
Die Frage war nur, wie sollte sie das Pferd jemals finden?
Es war garantiert schon längst über alle Berge.
Geena wischte alle Gedanken zur Seite.
Sie würde es ja doch nicht finden.
Und damit war es dann auch vorbei.
Sie musste es einfach so hinnehmen wie es nun einmal war.
Die Realität.

Als sie ihr Frühstück beendet hatte, tauchte Susan wieder auf.
Sie war einkaufen gewesen und hatte sämtliche Erkältungsmittel gekauft.
Wie immer übertrieben sie damit maßlos.
Geena fühlte sich zwar schlapp, aber das Frühstück hatte sie gut gestärkt und der Husten fiel auch sehr mager aus.
Trotzdem musste sie Hustensaft schlucken, Stärkungstropfen einnehmen und einen der ihr verhassten Kräutertees trinken.
Wirklich besser fühlte Geena sich dadurch nicht.
Zu alledem wollte Susan sie wirklich bei dem strahlend schönen Wetter nicht vor die Haustür lassen.
„Mit der Erkältung bleibst du mir schön hier. Du kannst doch fernsehen oder so.”
Kein guter Trost.
Geena wollte raus.
Sie wollte die Gegend erkunden und Freunde finden.
Susan und Marko wollten einen Stadtbummel machen und sich zu zweit amüsieren.
Geena würde dabei nur stören.

Also saß sie später ganz allein auf der Couch im großen Haus und zappte sich durch die Fernsehprogramme.
„-heute morgen gefunden.”
Geena hielt den Atem an.
Sie war auf dem Nachrichtenkanal für ihren Ort gelandet und auf dem Bildschirm erschien ein großes Bild.
Ein Bild von dem Pferd.
Es biss zum Moment der Aufnahme wild um sich und stieg.
„Tierschützer haben den völlig verstörten Hengst gegen Sonnenaufgang oben in den Bergen entdeckt. Berichten zufolge ist er aggressiv auf die Personen zugegangen und verletzte einen Tierschützer am Arm”, dröhnte es aus dem Fernseher.
Geena hörte nur halb zu.
Sie kritzelte auf einem kleinen Block die beigelegte Telefonnummer mit.
Danach schnappte sie sich das Telefon und wählte.
Schon nach vier Sekunden meldete sich eine junge Frauenstimme.
Geena puzzelte ihr bestes förmlichstes Deutsch im Kopf zusammen und meldete sich.
„Hallo, hier ist Susan Martin. Ich rufe an wegen des Hengstes. Er ist mir nach dem Kauf ausgebüxt und ich würde ihn gerne abholen.
Stille am anderen Ende.
Dann sagte die Frauenstimme: „Frau Martin, können Sie nachweisen, dass der Hengst Ihnen gehört? Er ist nicht gechippt und zudem in einem erbärmlichen Zustand. Die Tierärzte haben eigentlich beschlossen, ihn einzuschläfern. Des Tieres Wohl wegen.”
Geena schluckte.
Einschläfern?
„Ähm... Also... Ich... Er...”
Sie wusste nicht was sie sagen sollte.
„Meinetwegen können Sie ihn haben, denn er ist unserem Team gegenüber aggressiv und gefährlich. Wenn Sie mit ihm klar kommen, sollen Sie ihr Pferd wiederhaben. Melden Sie sich bitte bei den Tierschützern.”
Damit legte die Frauenstimme auf.
Geena war ratlos.
Sie hatte einen riesigen Fehler gemacht.
Wie stellte sie sich das denn vor?
Der Hengst hatte schließlich auch sie schon versucht umzubringen.
Sie konnte ihn ja wohl kaum einfach bei den Tierschützern abholen und mit nach Hause nehmen.
Sie stand da vor einem großen Problem.
Einem Problem, das für sie viel zu gewaltig war.

Marvelous Future - Ich passe auf dich aufOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz