Kapitel 22:

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Ich dachte ich würde losheulen sobald ich alleine bin. Aber so war es nicht. Das würde ich ihm nicht gönnen. Ich würde nicht wegen ihm heulen. Diese Tränen hatte er nicht verdient! Stattdessen schmiedete ich einen Plan. Einen Plan, wie es weiter geht.
Immerhin konnte ich nach dem was passiert war nicht mehr bei ihm wohnen.

Ich war wirklich kein nachtragender Mensch und noch nie gut darin gewesen, auf andere sauer zu sein. Aber das war etwas anderes.

Er hatte mich verletzt.

Wie Dad einmal sagte: „Vertrauen ist wie, wenn man jemandem ein Messer in die Hand gibt. Entweder er schützt dich damit, oder er rammt es dir in den Rücken."

Bei Lee war es definitiv letzteres.
Hör auf an ihn zu denken!
Entschlossen stand ich auf und verließ die Toiletten. Ich musste Jack finden.

Zu meinem Glück hatte ich ihn nach wenigen Minuten aufgespürt. „Hey, Jack! Ehmm...ich muss dich um einen Gefallen bitten..." begann ich zögernd. Aber es konnte ja nichts schlimmeres passieren, als dass er nein sagt.
„Ja?" Er lächelte mich fragend an.

„Kann ich vielleicht bei dir wohnen? Nur für ein paar Tage. Es ist wirklich dringend, meine Tante hat mich rausgeworfen und ich brauch einen Schlafplatz, bis sie sich wieder beruhigt hat..."

„Oh...ehm klar! Meine Eltern müssen morgen für zwei Wochen auf eine Geschäftsreise nach New York. Nur...warum hast du mich, und nicht Abi gefragt?"

Erleichterung durchfloss meinen Körper. Ich hatte einen Ort zum Schlafen gefunden, weit weg von Lee und weit weg von meiner Tante. Die hatte sich seit fast eineinhalb Wochen nicht mehr gemeldet. Schön zu wissen, dass ich ihr egal bin.

„Ich hab es bei Abi gar nicht erst versucht. Sie hat mir vorhin erzählt, dass die Schwester ihrer Mutter mit ihrer Familie gerade bei ihnen wohnt." erwiderte ich. Jack nickte nur verständnisvoll.

Das einzige Problem war nur, dass ich noch bis morgen bei Lee wohnen musste. Aber einen Tag würde ich noch irgendwie aushalten.
Ich muss ja nicht mit ihm reden.

Plötzlich kam Abi grinsend um die Ecke stolziert: „Leute...ich hab eine geniale Idee. Wir sollten uns heute Abend mal so richtig abschießen! Wer ist dabei?" Sie stellte sich zwischen uns und legte um Jack und mich jeweils einen Arm.

Abschießen? Das klang gerade wie Musik in meinen Ohren. Was besseres hätte sie nicht vorschlagen können.
„Was ist passiert?" fragte Jack zögernd und sah Abi ernst an. Doch sie winkte ab.
„Ach, wisst ihr...hab Streit mit Melanie, sie hat mich versetzt. Aber das ist egal...mit euch bin ich eh viel besser dran!" Auch wenn ein bisschen Traurigkeit in ihrer Stimme mit schwang, lächelte sie uns motiviert an.

Melanie war das Mädchen mit dem sie vor ein zwei Wochen auf der Party rumgemacht hatte. Mittlerweile waren sie irgendwie zusammen aber irgendwie auch nicht. Es war kompliziert, so gesagt.

Ob das heute Abend gut geht...

***

Wir trafen uns vor einer kleinen Kneipe am Rande der Stadt. Schon von außen sah man, dass es ziemlich leer war. Gut, dann sind wir ungestört.

„Ok, kommt mit." bedeutete Jack und öffnete die Tür, um uns hinein zu bitten.

„Jack? Freut mich dich hier zu sehen! Hätte nicht mit dir gerechnet!" Ein etwa 50-jähriger unrasierter blonder Mann stand an der Theke und putzte gerade mit einem Geschirrtuch ein Bierglas.

„Hi, Steve! Ja wurde echt mal wieder Zeit..." Gab Jack grinsend zurück. Dann wandte er sich an uns: „Wisst ihr, ich hab hier früher mal gearbeitet. Deswegen kennen wir uns."

Wir setzten uns an einen Platz im hinteren Eck. Gerade als ich fragen wollte, was wir bestellen, kam Steve zu unserem Tisch gelaufen. Er stellte eine Flasche Gin und Tonic Water auf den Tisch und grinste uns gut gelaunt an:
„Hier für euch. Geht aufs Haus!"
Bevor wir etwas antworten konnten, war er auch schon wieder hinter der Theke verschwunden.

„Ich hatte zwar nicht vor Gin Tonic zu trinken, aber es ist kostenlos, also her damit!" Abi blickte motiviert in die Runde. Dann schnappte sie sich die Gin Flasche, öffnete sie und schenkte jedem von uns einen ordentlichen Schluck ein. Den Rest füllte sie mit Tonic Water auf. Warum er uns gerade Gin Tonic und nicht irgendwas anderes brachte wusste ich nicht. Aber es war mir auch so ziemlich egal. Das einzige, was ich jetzt wollte war alles vergessen.

„Ok, auf drei. Eins, zwei, drei..." Wir kippten gemeinsam das Glas herunter. Um ehrlich zu sein war ich echt froh, dass es kein Wodka war. Immer wenn ich etwas trank, bekam ich Flashbacks zum letzen Mal, als ich dieses Getränk getrunken hatte. Auf Flashbacks von dieser einen Nacht konnte ich echt verzichten!

Nachdem wir die Flasche und eine weitere geleert hatten, war jeder von uns so ziemlich besoffen. Außer Jack, denn er hatte sich die ganze Zeit stark zurückgenommen und nur wirklich wenig getrunken. Zudem vertrug er auch einiges.

Wir lachten viel und hatten nach ein paar Stunden so ziemlich jedes „oberflächliche" Thema schon abgegrast, dann hob Abi ohne wirklichen Grund ihre Hand. Sie räusperte sich und fokussierte mich dann mit ihren Augen.

„Okeee...re-radikale Ärlischkeit." Nuschelte sie mir belustigt entgegen. „Saaid iehr n-noch Jung-f-frau?" Jack lachte amüsiert, dann schüttelten wir beide den Kopf. Interessant.

„Ik schon, wi-wisst ihr..." murmelte sie gedankenversunken. Nachdem sie einige Minuten einfach nur dagesessen hatte und in ihr Glas gestarrt, stand Jack auf.

„Ich glaube ich sollte euch mal nach Hause bringen, vor Allem dich Abi!" Er grinste Abi an, während sie gerade mit dem Finger über den Rand ihres Glases strich und es anstarrte, als hätte sie sowas noch nie gesehen.
„Naa guut." gluckste sie und erhob sich, wobei sie fast vom Stuhl kippte.
Auch ich stand etwas unbeholfen auf. Jack legte jeweils einen Arm um Abi und einen um mich und hievte uns so zu seinem Auto.

Ich war glücklicherweise noch im Stande ihm den Weg zu Lee zu erklären und er setze mich nach kurzer Zeit dort ab. Danach fuhr er Abi nach Hause.
___

Ich stand vor der hölzernen Tür des Herrenhauses.
Wärme durchflutete meinen Körper. Ich fühlte mich, als wäre ich in einer anderen Welt. Mein Kopf war benommen und ich bekam nicht mehr so viel, von dem was um mich herum passierte, mit. Aber es war ein schönes benommen sein. Ich hatte das Gefühl alles wäre unwichtig, ich machte mir um nichts mehr Gedanken, sondern handelte einfach. Mir war völlig egal was anderen Leute denken könnten.

Als ich die Tür öffnete, war es im Haus stockdunkel. Ich schlich auf Zehenspitzen durch die Küche Richtung Treppe. Fast angekommen, sah ich an einem erleuchteten Spalt in der Tür, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Neugierig öffnete ich sie und schaute hinein. Ich erstarrte. Dort saß Lee völlig alleine auf dem Sofa...
Vor ihm stand eine fast leere Flasche Whisky. Er blickte düster zu Boden.

Bad Boy. Good lips. Where stories live. Discover now