Kapitel 16

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Ich sah nur noch einen Ausweg und der hieß Flucht. Es hatte keinen Sinn jetzt noch mit Timo Schluss zu machen. Dazu war es zu spät. Mamahatte alles gesehen und sie würde alles erzählen.

Während Mama sich noch in Selbstmitleid suhlte, weil ihre Tochter versagt hatte, war ich nach Hause gerannt. Ich hatte meinen Rucksack geschnappt und alles, was mir wichtig erschien, dort hineingestopft. Doch ich würde nicht alleine fliehen. Auch Timo musste verschwinden.

Timos Zimmer war im Erdgeschoss des Hauses. Also klingelte ich nicht an der Tür, sondern klopfte an das Fenster seines Zimmers.

"Alles in Ordnung? Deine Mutter war ja vollkommen außer sich! Ich habe sie noch nie so gesehen", begrüßte er mich und öffnete das Fenster. Er schien noch nachhaltig verstört zu sein, von dem, was wir eben erlebt hatten.

"Frag nicht!"

Ich wusste nicht, wie schnell der Rat war. Es war wohl besser, wenn wir uns beeilten.

"Habt ihr euch also nicht vertragen?", erkundigte er sich besorgt.

"Nein und genau deshalb bin ich hier."

"Okay, was ist dein Plan?"

"Abhauen", sagte ich kurz und knapp. "Einfach nur hier weg."

Er lachte kurz irritiert.
"Abhauen? Das meinst du doch nicht ernst."

Ich nickte entschlossen.

"Doch!"

"Ach komm, Amy! Sprich doch noch einmal mit deiner Mutter. Von mir aus kann ich auch noch einmal mit ihr sprechen. Aber Weglaufen kann doch nicht die Lösung sein."

"Bitte, Timo! Es ist ernst. Ich kann dir das jetzt nicht aller erklären, aber wir müssen hier weg. Du auch!"

Ich hatte schließlich keine Ahnung, ob der Rat schon nach uns suchte oder nicht.

"Amy, versteh mich nicht falsch, aber was soll das bringen? Wir können ja nicht ewig fliehen. Und irgendwann musst du dich eh mit dem Problem auseinandersetzen. Meinst du wirklich, dass es so viel Sinn macht wegzulaufen?"

"Ja", antwortete ich sofort. "Es bringt uns Zeit."

"Zeit wofür? Du tust ja fast so, als ginge es um Leben und Tod."

So war es auch! Je länger wir hier standen, desto größer war das Risiko, dass meine Mutter sie hierher führte.

"Timo, meinst du, ich würde dich darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre?"

Flehend sah ich ihn an. Ich konnte sehen, wie er innerlich mit sich rang. Er war nicht der Typ, der einfach von zuhause abhaute. Er hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Eltern und wollte ihnen unter keinen Umständen Sorgen bereiten. Er war das genaue Gegenteil von einem Problemkind.

Auf der anderen Seite kam mir die Tatsache zugute, dass uns die Pfeile getroffen hatten. Dadurch waren wir ein Leben lang aneinander gebunden. Diese Verbindung war so tiefgehend, dass ich für Timo immer den höchsten Stellenwert haben würde.

"Okay", willigte er schließlich ein. "Ich pack schnell meine Sachen und schreibe meinen Eltern eine kurze Notiz. Ich will, dass sie wenigstens wissen, dass es mir gut geht."

"Hmm, aber beeil dich."
"Wie willst du denn überhaupt hier wegkommen?", erkundigte er sich, während er hastig Dinge in seine Reisetasche stopfte.

"Auto", sagte ich knapp.

Er hielt kurz inne und sah mich ungläubig an.

"Amy! Du willst, dass ich das Auto meiner Eltern klaue. Und ich muss sogar noch fahren, da du noch nicht einmal 18 bist", durchschaute er meinen Plan sofort.

"Timo, vertrau mir! Es geht nicht anders. Wir müssen hier wirklich schnell weg. Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre."

Er griff nach einem Blatt Papier und kritzelte ein paar Worte drauf.

"Amy, du machst mir ein wenig Angst. Ich verstehe wirklich nicht ganz, was hier vor sich geht."

Ich wünschte, ich könnte es ihm erklären.

"Es gibt vieles, das du nicht weißt. Ich kann dir nur so viel sagen, dass wir in Gefahr sind und du insbesondere."

"Ich?", fragte er ungläubig und hatte den Zeigefinger auf sich selbst gerichtet.

"Ja, du! Und jetzt komm! Vertrau mir! Bitte!"

Er schien nun wirklich Angst zu bekommen. Timo griff seine Reisetasche und schwang sich dann gekonnt über seinen Fenstersims.

"Wir nehmen das Auto meiner Oma, das bei uns in der alten Garage steht. Da fällt es nicht sofort auf, wenn es weg ist."

Er war nicht nur gutaussehend, sondern auch clever.
"Perfekt. Sind deine Eltern überhaupt da?"

"Sie machen gerade einen Spaziergang, aber ich weiß nicht, wann sie wiederkommen."

Wir hasteten zu der alten Garage, schmissen unsere Sachen in den Kofferraum und machten uns dann vom Acker.

Ich fühlte mir ein wenig erleichtert, als wir am Ortsausgangsschild vorbeifuhren. Sicherlich würden wir nicht ewig vor dem Rat fliehen können, aber wir mussten es ihm ja auch nicht zu einfach machen.

"Ich habe kein gutes Gefühl", ließ Timo mich wissen. "Unser Verschwinden wird schon in ein paar Stunden auffallen. Man wird uns suchen."

"Das tut man jetzt schon", antwortete ich ehrlich.

"Warum sagst du mir nicht, was wirklich los ist?"

Ich sah aus dem Fenster, wo eine schneebedeckte Winterlandschaft an mir vorbeizog. Vielleicht sollte ich es ihm wirklich einfach erklären. Ich hatte doch eh nichts mehr zu verlieren. So würde er wenigstens wissen, wofür wir sterben würden. Denn genau das war es, was mit uns geschehen würde.

"Noch nicht", antwortete ich schließlich.

"Hmm, meinst du nicht, es würde helfen, wenn ich wüsste, worum es geht."

"Ich denke nicht."

Enttäuscht sah er kurz auf das Lenkrad.

"Ich tue das nur, weil ich dir zutiefst vertraue und weiß, dass du mich niemals so etwas bringen würdest, wenn es keinen anderen Ausweg geben würde. Bitte nutze Vertrauen nicht aus!"

"Das würde ich nie tun", beteuerte ich.

Dann sah er mich an und gab mir einen flüchtigen Kuss. Genau das hatte ich gebraucht.

"Wo soll ich überhaupt hinfahren?"

"Eigentlich egal, aber am besten achten wir darauf, dass wir nicht auf Autobahnen fahren. Werden dort nicht zum Teil auch Kennzeichen gescannt? Je später man uns findet, desto besser."

Timo schluckte schwer.

"Ich kann kaum glauben, dass ich mich darauf eingelassen habe, diese Flucht anzutreten. Wenn du es nicht gewesen wärst, hätte ich dir sicher einen Vogel gezeigt. Das ist hier ist schon ziemlich verrückt."

"Ich weiß. Ich tue das auch nur, weil ich dich über alles liebe."

Ich spürte, wie er am Steuer verspannte. Dann wanderte sein Blick langsam zu mir.
"Tust du das?", fragte er mit einem Lächeln auf den Lippen.

"Ja. Du nicht?"

"Natürlich liebe ich dich", antworte er und für einen kurzen Moment konnte ich so etwas wie Glück verspüren.

Wer wusste schon, wie oft ich in meinem Leben noch Glück spüren konnte? Sobald Timo nicht mehr an meiner Seite war, würde jegliches Glücksgefühl verschwinden. 

AmoraWhere stories live. Discover now