Kapitel 4

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"Abendessen!", hörte ich die Stimme meiner Mutter aus der Küche rufen.

Mir war nicht nach Essen zumute, doch ich dürfte mir meine Verzweiflung nicht anmerken lassen. Normalerweise sprach ich mit meiner Oma und meiner Mutter über alles, doch ich hatte zu viel Angst von den heutigen Geschehnissen zu erzählen. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was für Konsequenzen das haben würde.

Ich lief die Treppe nach unten und hoffte, dass ich alle Spuren meiner bitteren Tränen gut überschminkt hatte.

"Na du hast dich ja heute schick gemacht", bemerkte Oma sofort. "Du trägst doch sonst kaum Makeup!"

Ich zuckte locker mit Schultern.

Lass dir bloß nichts anmerken!

"Ich habe nur ein bisschen etwas ausprobiert", tat ich es möglichst beiläufig ab.

Jede andere Familie würde nun den Verdacht haben, dass ich mich für einen Jungen geschminkt hatte. Doch in meiner Familie gab es das Themas "Jungs" nicht, denn es war für uns ausgeschlossen jemals eine Beziehung zu haben. Es war für meine Familie klar, dass ein Junge dafür nicht der Grund sein konnte.

"Ich finde es ein bisschen übertrieben. Du bist hübsch. Du brauchst so ein Zeug nicht im Gesicht", gab Oma kritisch von sich. "Und bei diesem Schneefall kannst du es gleich bleiben lassen. Das läuft dir doch wie flüssiges Wachs vom Gesicht."

"Hmm, stimmt", murmelte ich. "Aber der Schnee ist toll, oder?", versuchte ich das Thema zu wechseln.

"Solange man das Auto stehen lassen kann, schon", antwortete Mama und tat uns allen eine große Portion Nudeln auf. "Der Verkehr war heute eine Katastrophe!"

"Ich finde die weiße Pracht toll", stimmte Oma mir zwinkernd zu.

Innerlich konnte ich jedoch nur an Timo denken. Wie sehr wünschte ich mir, dass er jetzt hier war und mich in den Arm nahm. Ich wollte sein Lachen sehen und seine Haut spüren. Ich musste mir alle Mühe geben, um Phantasien zu unterdrücken, die noch deutlich weitergingen, als bloßes Kuscheln.

Wir Drei setzten uns an den Esstisch.

"Wisst ihr, was ich mich heute gefragte habe", versuchte ich mich vorsichtig vorzutasten. "Was passiert eigentlich, wenn man gegen Regeln verstößt?"
Mama und Oma sahen mich sofort stirnrunzelnd an. Offensichtlich hatte ich nicht so beiläufig geklungen, wie ich es geplant hatte.

"Welche Regeln meinst du und wieso fragst du?"

"Einfach nur so. Wir haben heute in Ethik über Fehlentscheidung und Strafmaß und sowas gesprochen. Und da habe ich mich das einfach gefragt. Ich kenne natürlich unsere Regeln und würde sie nie brechen, aber irgendwie interessiert es mich schon, was denn eigentlich das Strafmaß ist."

Mir entging nicht, wie Oma und Mama Blicke austauschten. Ich fragte mich, ob hinter diesem Blick mehr steckte, als ich ahnte.

"Es gibt kein einheitliches Strafmaß. Es sind immer Einzelentscheidungen", antwortete mir Mama knapp und ihr Gesichtsausdruck sagte mir, dass sie sich schöne Gesprächsthemen vorstellen konnte. Doch darauf konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen.

"Nenn mal ein Beispiel! Was gibt es für Urteile?"

Mama seufzte.

"Das ist wirklich kein gutes Thema am Abend", meckerte sie.

"Ach bitte! Ich habe immer das Gefühl, dass ich noch viel zu wenig weiß! Ich bin bald 18! Ich kann sogar schon Pfeile abschießen. Da sollte ich doch schon viel mehr wissen, aber du sagst mir ja nicht einmal meine Herkunft."

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. Das war das meistbehüteste Geheimnis von meiner Mutter und meine Oma: Wo kam ich überhaupt her? Wenn Amora keine Partner haben dürften - und das schloss Sex mit ein - dann fragte ich mich schon, wie ich zustande gekommen war. Ich hatte keine Ahnung wer mein Vater war. Doch es war egal, wie sehr ich meine Mutter angebettelt hatte, eine Antwort war mir immer verwehrt geblieben. Bis heute kannte ich nicht eine Amora, die wusste, wer ihr Vater war. Es war mir ein Rätsel.

"OKay okay", lenkte sie schließlich ein. "Ich kennen einen Fall, bei der eine französische Amora unsere Identität auffliegen lassen wollte."

Mama machte eine dramatische Pause, um zu verdeutlichen, was für ein grausamer Regelverstoß das war.

"Und was ist mit ihr passiert?", fragte ich ungeduldig.

Mama schluckte schwer und auch Oma sah bedrückt aus.

"Man konnte sie nicht länger leben lassen. Sie war eine zu große Gefahr. Der Rat hat sie täten lassen."

Mit großen Augen starrte ich Mama an.

"Sie haben sie getötet?", stammelte ich entsetzt.

Oh Gott, vielleicht würde mir das gleiche Schicksal blühen, wenn jemand herausfand, was ich versehentlich getan hatte.

"Ja, es ist schrecklich, aber sie hat das mit voller Absicht gemacht. Jeder weiß, dass das Dasein der Amora geheim bleiben muss und sie wollte es der ganzen Welt erzählen. Das konnte man nicht zulassen. Es ist schrecklich, aber was blieb dem Rat für eine Wahl?" Sie ließ mich gar nicht erst zu Worte kommen. "Aber das war auch die härteste Strafe von der ich je gehört habe. Man wird nicht immer gleich umgebracht."

Mir war augenblicklich jeglicher Appetit vergangen. Ich stocherte nur noch lustlos in meinen Nudeln herum.

"Nun schau nicht so!", mahnte mich Mama. "Du bist die vorbildlichste Amora, die ich kenne. Es wird nie einen Grund geben, sodass man dich bestrafen muss."

Oh, sie hatte ja keine Ahnung.

Ich schämte mich so sehr für meinen Fehler, sodass ich es nicht wagte meiner Mama oder meiner Oma davon zu erzählen. Ich war eine Schande für die Amora.

Auf der anderen Seite brauchte ich Hilfe. Ich konnte an niemand anderen mehr denken als an Timo. Es hatte mich all meine Kraft gekostet seine Nachrichten nicht zu lesen. Denn am liebsten wäre ich schon längst zu ihm gefahren, um mich in seine Arme fallen lassen zu können. Dieser Anziehungskraft würde ich kein Leben lang widerstehen können. So viel stand jetzt schon fest: Ich musste es irgendwie rückgängig machen.

Und dann fiel mir etwas ein. Vielleicht konnte ich es wirklich noch gerade biegen. Ich könnte noch einen Pfeil kreieren und dieses Mal wirklich die neue Schönheit, dessen Name ich noch nicht kannte, damit treffen. Vielleicht half das. Schließlich war sie doch für ihn bestimmt. Vielleicht konnte das den Bann zwischen Timo und mir lösen.

Ich konnte es nur hoffen, denn einen Plan B hatte ich leider nicht.

AmoraWhere stories live. Discover now