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tw: trauma

Jeno:

Unser Haus liegt still und dunkel vor mir und auch im Nachbargebäude leuchtet kein einziges Licht mehr, als ich in der Einfahrt parke und den Wagen verlasse.

Chenle schläft vermutlich schon, deshalb schließe ich möglichst leise die Haustür auf und schlüpfe aus meinen Schuhen.
Ich gehe kurz in die Küche, um mir ein Glas Wasser einzuschenken und reiße überrascht die Augen auf, als ich das Licht anschalte. Die Küche geht offen ins Wohnzimmer über, die Räume sind nicht voneinander abgetrennt, weshalb ich die fertig aufgebauten Möbel neben dem Sofa bewundern kann.

Hat mein bester Freund das etwa ganz alleine aufgebaut? Nein, das kann doch nicht sein.
Aber Kun wird auch keine Handwerker geschickt haben, nicht wenn Chenle alleine Zuhause ist.

Begeistert schaue ich mich im Zimmer um. Es wirkt immer noch sehr leer und unbewohnt, aber ich kann mir schon vorstellen, wie schön Chenle und ich diesen Raum dekorieren werden.

Jetzt aber erstmal ins Bett, ich könnte gerade im Stehen einschlafen.

Ich laufe die Treppe hoch, wobei ich mich wieder bemühe, möglichst keinen Laut von mir zu geben, und lege meinen Rucksack im Flur ab, bevor ich auf Chenles Zimmer zugehe.
Vorsichtig drücke ich die Klinge nach unten, wobei ein bisschen Licht in den dunklen Raum fällt. Ich will nur einen kurzen Blick auf meinen schlafenden besten Freund werfen, aber als ich ihn erblicke, ziehe ich erschrocken die Luft ein und stürme in das Zimmer.

Chenle kauert auf dem Boden, tränenüberströmt und zitternd, während er sich beide Hände auf die Ohren presst.

Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm und nehme ihn in den Arm. Ich streichele ihm sanft durch seine Haare, küsse seine Stirn und rede beruhigend auf ihn ein.

Eigentlich hat das immer geholfen.

Aber jetzt fängt Chenle plötzlich an, wild um sich zu schlagen, mit einer Kraft, die ich ihm nie zugetraut hätte. Ich kann gar nicht schnell genug reagieren, da trifft er mich hart am Kinn und boxt mir noch in den Bauch, bevor ich ausweichen kann und keuchend gegen eine seiner Pappkisten falle.

Chenle kniet vor mir, die Augen ängstlich aufgerissen, das Gesicht bleich und immernoch laufen dicke Tränen über seine Wangen. Er starrt mich an, als sei ich der Teufel, schlimmer noch.
Mein Herz zerreißt bei diesem Anblick, meine Augen brennen und mein Herz schlägt unheimlich schnell.

"Lele ich bins! Jeno! Ich bin bei dir, hörst du mich?", versuche ich es noch einmal, aber auch das hilft nicht, denn Chenle weicht vor mir zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stößt und wimmernd dort sitzen bleibt.

Langsam und vorsichtig bewege ich mich auf ihn zu, fange aus Verzweiflung an, ein Kinderlied zu summen, in der Hoffnung, dass es ihn irgendwie beruhigen wird.
Es ist das Lied, das er mir immer vorgesungen hat, als wir kleiner waren. Wenn ich Albträume hatte und nachts aufgewacht bin, ohne mich an sie erinnern zu können, war Chenle für mich da und hat gesungen, bis ich wieder eingeschlafen bin.

Vielleicht hilft es bei ihm auch?
Meine Stimme klingt kratzig und nicht halb so schön wie Chenles Stimme, aber trotzdem scheint es Einfluss auf meinen besten Freund zu haben.
Das Wimmern wird leiser, je näher ich ihm komme, und das Zittern wird schwächer.
Er sitzt im Dunkeln, das Licht aus dem Flur dringt nicht mehr ganz an ihn heran, und ich erkenne seine großen Augen und seine Hände, die er eben noch in seine Unterarme gekrallt hat. Nun lässt er sie kraftlos in seinen Schoß fallen und wankt ein wenig, droht umzukippen, doch da ziehe ich ihn schon in eine vorsichtige Umarmung.

Er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge, ich spüre die Nässe seiner Tränen an meinem schmerzenden Kinn und atme erleichtert auf, als sich Chenles Finger in meinen Haaren festklammern.

"J-jeno", flüstert er leise mit gebrochener Stimme, bevor ein lauter Schluchzer ertönt und er sich mit seinem ganzen Gewicht an mich klammert.

Leise flüstere ich weiter in sein Ohr, erinnere ihn daran, dass ich bei ihm bin und bei ihm bleiben werde und langsam aber sicher beruhigt Chenle sich.

"Ich lass dich nicht alleine Lele, hörst du? Ich bleibe bei dir", flüstere ich und drücke ihn noch einmal fest an mich, bevor er sich sanft von mir löst und ich sein Gesicht mit meinen Händen umfasse.
Vorsichtig streiche ich die Tränen aus seinem Gesicht und betrachte ihn, wie er ein paar mal ein und ausatmet, ehe er mir in die Augen schaut.

"Ich dachte, dass du er bist. Das Auto und... ich war alleine und... du bist nicht an dein Handy gegangen. Ich dachte, dass du noch im Entertainment bleibst", murmelt er und schlechtes Gewissen überkommt mich.
Ich hätte ihm schreiben sollen.
Ich hätte das hier verhindern können, wenn ich Chenle geschrieben hätte, dass ich heute nach Hause komme.

"Es tut mir so leid, Lele", hauche ich und lege leicht meine Lippen auf seine Stirn, vergrabe meine Nase in seinen Haaren und atme seinen vertrauten Geruch ein.

"Alles gut. Es ist nicht deine Schuld", widerspricht er sanft und lächelt, aber ich unterbreche ihn, bevor er weiter reden kann.

"Doch. Ich hätte schreiben sollen. Ich hätte gar nicht über Nacht wegbleiben sollen, ich-"

Jetzt unterbricht er mich: "Jeno, ich bin kein Baby mehr. Ich komme alleine klar. Und ich bin sicher hier."
Er blickt mich leicht vorwurfsvoll an und ich schüttele fassungslos den Kopf.

"Das steht überhaupt nicht zur Debatte! Lele, ich wollte dir keinen Stress machen, aber du musst mit jemandem darüber reden. Nur so kannst du das verarbeiten." Ich schaue ihn bittend an.

"Wenn du nicht mit mir reden kannst, dann mit jemand anderem. Und dabei kann auch jemand Professionelles helfen. Du weißt, dass ich damals auch eine Therapie gemacht habe, als..." Ich rede nicht weiter. Chenle weiß auch so, was ich meine.

"Das hilft Lele, wirklich."

Er sieht mich zweifelnd an, bevor er stumm nickt und zu seiner Matratze läuft. Dort legt er sich hin und kuschelt sich in seine Decke, wirft mir einen Blick zu und wir müssen keine Worte mehr wechseln, um einander zu verstehen.

Ich schlüpfe schnell aus meiner Jeans und lasse sie auf den Boden fallen, bevor ich mich zu Chenle lege, der sich sofort an mich kuschelt.

"Danke Jeno.", flüstert er, bevor er sein Gesicht in meiner Brust vergräbt und Sekunden später eingeschlafen ist.

puzzle piece • nct nominWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu